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Die Erfindung des Masochismus  
  Vor rund 140 Jahren hat Leopold von Sacher-Masoch jenes Werk veröffentlicht, das ihn berühmt machen sollte: die Novelle "Venus im Pelz", in der er u. a. die "Nachtseiten der Liebe" beschrieb. 20 Jahre später prägte eine der Gründungsfiguren der Sexualwissenschaft, Richard von Krafft-Ebing, den Begriff "Masochismus". Wie es dazu gekommen ist und welche Bedeutung die Erfindung für Sexual- und Literaturwissenschaft hatte, beschreibt die Germanistin Birgit Lang in einem Gastbeitrag.  
Die Nachtseiten der Liebe
Von Birgit Lang

Heute ist der österreichische Autor Leopold von Sacher-Masoch aus zwei Gründen bekannt, als Verfasser der Novelle Venus im Pelz, besungen etwa von Velvet Underground, und als Namensgeber einer "Perversion". So führt die ICD (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) Sadomasochismus immer noch als Persönlichkeitsstörung.

Wie kam es zu dieser merkwürdigen Verquickung von Literatur und Medizin? Wieso nannte einer der Gründerväter der Sexualwissenschaft, der Psychiater Richard von Krafft-Ebing (1840-1902), was in seinen Augen ein Krankheitsbild darstellte, nach einem zeitgenössischen Schriftsteller?

Das Klassifizieren und Benennen von Krankheitsbildern stellte für Krafft-Ebing an sich nichts Ungewöhnliches dar. Als führender Wissenschaftler der neuen Disziplin Sexualwissenschaft hatte er dazu mehr Möglichkeiten als später seine Nachfolger. Einige seiner Begriffsbildungen sind auch heute noch Teil unseres Sprachgebrauchs: Zwangsvorstellung, Dämmerzustand und eben auch - Masochismus.
Pathologisierung der Venus im Pelz
Seit Michel Foucaults Analyse der Medizin und Psychiatrie in den siebziger Jahren wissen wir, dass medizinische Klassifizierungen eine komplexe und von Machtdiskursen durchzogene Angelegenheit sind. Denn die Einteilung in Gesunde und Kranke, dient nicht (nur) einer oft nicht näher definierten Allgemeinheit, sondern formt menschliches Verhalten und generiert gleichzeitig ökonomische Profite.

Deswegen scheint im Falle Sacher-Masochs festzustehen: Krafft-Ebing pathologisierte Sacher-Masoch aufgrund dessen pornographischer Ausführungen in Die Venus im Pelz, profilierte sich aber durch diese Benennung selbst als Wissenschaftler. Mit dem gleichen Argument, Die Venus im Pelz sei ein obszönes erotisches Werk, wurde das Buch übrigens in Nachkriegsdeutschland auf den Index gesetzt. Allerdings stellte man anlässlich der Widerrufung des Urteils fest, dass Erotik eigentlich nicht dargestellt werde.
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Vortrag in Wien
Birgit Lang hält am Montag, 15. Juni, 18 Uhr c.t. den Vortrag "Die Erfindung des Masochismus. Die Nachtseiten der Liebe".
Ort: IFK, Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   Mehr über den Vortrag
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Gleichberechtigung von Mann und Frau ...
Um was geht es in Venus im Pelz? Die Novelle erschien erstmals 1870 und war Teil einer Novellensammlung mit dem Titel Die Liebe. In dieser beschreibt Sacher-Masoch seine Rückkehr in die Landschaft und Gesellschaft seiner Kindheit. Er schildert die Besonderheiten von Land und Leuten und setzt sich mit der Liebe, gemeint ist das Eheglück und das Verhältnis der Geschlechter, auseinander.

Die Situation des verarmten Landadels liegt ihm besonders am Herzen. Um Ankurbelung der Produktivität und Eheglück gleichzeitig zu vereinen, muss der Landadel, Sacher-Masochs Meinung nach, zwar dem bürgerlichen Ideal der Arbeit frönen (der Adel ließ von jeher arbeiten), jedoch einen der Grundsteine bürgerlicher Identität über Bord werfen: die Geschlechtertrennung der Arbeit. Denn nur wenn Mann und Frau Seite an Seite arbeiteten, sei Gleichberechtigung möglich.

Aus der Perspektive der damaligen Zeit war das eine provokante Forderung, wurde bürgerlichen Frauen zwar nach mühseligem Kampf mehr Bildungs-, aber kaum Arbeitschancen ermöglicht. Der galizische Landadel könne diesem Szenario entgehen, indem die Feudalherren ihre Frauen in den Arbeitsprozess der Verwaltung ihrer Landgüter heranzögen.
... sonst für immer "Hammer oder Amboss"
All dies sagt Sacher-Masoch als Schriftsteller nicht direkt, sondern exemplifiziert seine Analyse anhand sechs unterschiedlicher Schicksale. In Venus im Pelz steht der schweigsame, als leicht seltsam geschilderte Außenseiter Severin im Mittelpunkt. Seine Lebensgeschichte hat ihn gelehrt, dass ohne eine Emanzipation der Frau Männer und Frauen immer nur "Hammer oder Amboss" sein können.

Während er im Gespräch mit Sacher-Masoch bekräftigt, der dominante Teil, also "geheilt", zu sein, lässt er diesen doch jenes handschriftliche Dokument lesen, das seine frühere "Leidensgeschichte" mit Gräfin Wanda von Dunajew enthält, die Velvet Underground hundert Jahre später besingen würden.

Anders als Sacher-Masoch vermutete, beanstandeten seine Zeitgenossen nicht die provokante Lösung der bürgerlichen Geschlechterfrage in der feudalherrschaftlichen Peripherie der Habsburgermonarchie, sondern die Darstellung der "Nachtseiten der Liebe".
Medizinischer Respekt für die Literatur
Zwanzig Jahre nach Erscheinen fand sich jedoch ein neuer Fan: Richard von Krafft-Ebing. Er war von seinen Patienten auf Venus im Pelz hingewiesen worden, weil sich diese in der Figur des jungen Severins wiedererkannten. Dass sie dabei den Text sehr eigenwillig interpretierten, störte Krafft-Ebing nicht.

Krafft-Ebing billigte dem Schriftsteller Sacher-Masoch zu, das Phänomen Masochismus als erster beschrieben zu haben. Deswegen benannte er 1890 den Masochismus nach einem Schriftsteller. Außergewöhnlich war dies deswegen, weil die Medizin Literatur nur bedingt ernst nahm. Denn Literaten nahmen in den Augen der Medizin psychische Phänomene als zu idealistisch und einseitig positiv wahr.

Bei der Venus im Pelz war das anders, wie Krafft-Ebing von Seiten seiner Patienten wusste. Sein Respekt Sacher-Masoch gegenüber bewirkte allerdings, dass er Literatur zumindest für eine kurze Zeit ernster nahm als seine Kollegen.
Sacher-Masoch als Masochist geoutet
Aber nicht nur die Patienten Sacher-Masochs beeinflussten Krafft-Ebings Sichtweise. Im Jahr 1901 - sechs Jahre nach dem Tod des Autors - veröffentlichte der Nicht-Mediziner Carl Felix von Schlichtegroll die erste Biografie Sacher-Masochs, in der er Sacher-Masoch als Masochisten outete. Schlichtegroll verteufelte hier besonders den Einfluss der ersten Frau Sacher-Masochs (Materialien dazu erhielt er unter anderem von der Witwe des Schriftstellers).

Das öffentliche Outing machte den Autor erst zum Masochisten. Die Sexualwissenschaften schlossen sich dieser Sichtweise schnell an und nahmen Literatur fortan weniger ernst.

Sexualwissenschaften, Patienten und Biografen forcierten also eine Gleichsetzung von Autor und Werk, die sich bald allgemein durchsetzen würde. Den Werken der Autoren wurde diese neue, manchmal allzu simplistische biografische Lesart nicht immer gerecht.

[15.6.09]
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Über die Autorin
Birgit Lang ist Lecturer in German an der Universität Melbourne, Australien, und zurzeit Research Fellow am IFK in Wien. Sie studierte Germanistik an der Universität Wien. 2000/2001 lehrte und forschte sie an der Duke University, NC, dem Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig (IQN-DAAD/IFK_Kooperation) und der Universität Oxford.
->   Mehr über die Autorin (Universität Melbourne)
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01.01.2010