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Polen zählt Opfer des Zweiten Weltkriegs  
  Siebzig Jahre nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zählt Polen in einem neuen Forschungsprojekt seine Opfer aus der Zeit der deutschen Besatzung von 1939 bis 1945 - Name für Name.  
Ziel ist, noch unbekannte Opfer zu ermitteln und zugleich alle vorhandenen Informationen zusammenzutragen, die bisher über Polen, Deutschland, Israel und die Ukraine verstreut sind. Sie sollen in einer Internetdatenbank vereint und allgemein zugänglich gemacht werden.
1.500 Dossiers in zwei Wochen
"Wie viele Formulare muss ich ausfüllen, wenn ich die einzige Überlebende meiner fünfköpfigen Familie bin?", fragt die 82-jährige Maria Gnietczyk, ehemalige Gefangene des deutschen Lagers Auschwitz. Die Antwort lautet fünf.

Die Formulare können auf Papier oder online ausgefüllt werden. "Binnen zwei Wochen sind über 1.500 Dossiers per Internet eingegangen", berichtet Ewa Tazbierska von der Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung, die das Projekt seit Ende Mai unter der Adresse www.straty.pl betreut.
Historiker prüfen Angaben
Auf der Website können die Namen von Menschen angegeben werden, die bei Militäroperationen erschossen wurden, im Gefecht fielen, hingerichtet wurden oder in den Lagern und Ghettos starben.

Historiker überprüfen jede Eingabe, um Doppelungen zu vermeiden. "Das ist eine Geduldsarbeit, eine gigantische Aufgabe, sowohl was die Dimension als auch was die Schwierigkeit angeht", sagt der Historiker Andrzej Kunert.
Opfern Namen geben
Das Programm läuft seit 2006. Bisher war die regierungsunabhängige Organisation Karta dafür verantwortlich, die in drei Jahren 1,5 Millionen Namen sammelte. Diese Zahl könnte sich in den kommenden drei Jahren verdoppeln, schätzt Ewa Tazbierska.

"Das Interesse ist enorm. Binnen zwei Wochen hatten wir über 50.000 Besucher auf der Website und 360.000 Namenssuchen", erklärt sie. "Es geht darum, den Opfern einen Namen zu geben. Man spricht immer von mehreren Millionen Opfern, aber man kennt sie nicht."
Sechs Millionen Opfern ein "Mythos"?
Außerdem geht es den Historikern darum, eine wirklich verlässliche Zahl der Weltkriegsopfer zu ermitteln. Eine schwierige Aufgabe in einem Land, dessen kommunistische Regierung in ihrer 50-jährigen Herrschaft den Opfermythos zu Propaganda-Zwecken missbrauchte.

"1946 setzten die kommunistischen Behörden die Zahl der Opfer auf 6.028.000 fest", erläutert der Historiker Kunert. Die lediglich auf Schätzungen basierende Zahl stand Jahrzehnte lang in den Geschichtsbüchern. In der polnischen Geschichtsschreibung sei sie "praktisch heilig" gewesen, obwohl Historiker von Anfang an Zweifel gehabt hätten, erklärt Kunert. Kein Land Europas habe seine Opfer sofort nach dem Krieg so genau beziffern können.
Junge Generation miteinbeziehen
Das Ergebnis des Namensprojekts ist völlig offen, wie Kunert sagt. "Die Zahl der Opfer könnte sich als niedriger erweisen und etwa 4,5 Millionen betragen, wie einige Historiker denken", sagt der Historiker. Sie könne aber auch sieben oder sogar acht Millionen erreichen.

Neben der wissenschaftlichen Bedeutung gehe es auch darum, "die junge Generation einzubeziehen", erklärt Tomasz Merta, stellvertretender Kulturminister in Warschau.

Sein Ministerium finanziert das Projekt gemeinsam mit dem Institut des Nationalen Gedenkens, das mit der Aufdeckung der Verbrechen von Nazis und Kommunisten betraut ist.
Berührende Einzelschicksale
"Auch wenn es spät ist, es muss getan werden. Die Deutschen sollen alles Schwarz auf Weiß wissen", sagt die 73-jährige Maria Bromowska. Sie ist zur Stiftung gekommen, um dort ihren Vater zu registrieren sowie fünf Mitglieder der Familie ihres Mannes. Sie starben während des Warschauer Aufstandes gegen die deutsche Besatzung 1944.

"Das schulde ich dem Andenken meines Vaters. Er wurde auf der Straße von einem deutschen Soldaten erschossen, in einem Vorort von Warschau. Er gehörte nicht zum Widerstand, er war einfach ein Zivilist", sagt die alte Frau. Sie hat ihren Vater selber sterben sehen. In Erinnerung daran rollen ihr noch heute die Tränen über die Wangen.

Maja Czarnecka, AFP, 15.6.06
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01.01.2010