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Muschelkrebse: Spermien sind größer als die Tiere  
  Die an bizarren Beispielen nicht arme Welt der Fortpflanzung im Tierreich ist um eines reicher: Forscher haben 100 Millionen Jahre alte Fossilien eines Muschelkrebses untersucht und festgestellt, dass die Spermien ihrer männlichen Vertreter größer gewesen sind als die Tiere selbst.  
Die Paläontologin Renate Matzke-Karasz von der Uni München und ihre Kollegen haben dabei ein sehr junges bildgebendes Verfahren angewandt, die Holotomographie.

Riesige Spermien kommen im Tierreich gar nicht selten vor und gelten als eine Strategie, um im "Wettbewerb der Befruchtung" zu bestehen.
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Die entsprechende Studie "Sexual Intercourse Involving Giant Sperm in Cretaceous Ostracode" ist am 16.6.09 in "Science" erschienen (Bd. 324, S. 1.535).
->   Abstract der Studie
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100 Millionen Jahre alt
Muschelkrebse oder Ostrakoden bevölkern die Erde schon ziemlich lange - die frühesten Fossilfunde sind 450 Millionen Jahre alt. Wie auch bei anderen Versteinerungen gibt es auch bei ihnen nur wenige Exemplare, bei denen auch weiches Gewebe die Jahrmillionen überdauert hat.

Fünf 1972 entdeckte und rund 100 Millionen Jahre alte Krebse bilden eine Ausnahme: Sie haben Matzke-Karasz und ihre Kollegen am "European Synchrotron Radiation Facility" im französischen Grenoble nun holotomographisch untersucht.

Mit der Methode können dreidimensionale Bilder der inneren Strukturen selbst von mikroskopisch kleinen Objekten hergestellt werden, ohne das Material zu schädigen.
Hohlräume der Weibchen speichern Riesenspermien
Bei ihrem Blick ins Innere der wenige Millimeter großen Muschelkrebse konnten die Forscher Organe nachweisen, die für die Übertragung der Riesenspermien unbedingt notwendig sind. "Bei den Weibchen stießen wir auf zwei langgestreckte Hohlräume im Bauchraum, die man auch von heutigen Arten kennt", erklärt Radka Symonova, eine der beteiligten Forscherinnen.

"Diese Hohlräume sind Speicher für die Spermien. Sie treten nur in Ostrakoden auf, deren Weibchen Riesenspermien in ihrem Körper bis zum Zeitpunkt der Eiablage aufbewahren, wenn jedes Ei von einem Spermium befruchtet wird. Von den heute lebenden Arten weiß man, dass diese Spermienbeutel nur dann ihre typische Form erhalten, wenn sie mit Riesenspermien gefüllt sind", so Symonova in einer Aussendung.

Die fossilen Weibchen müssen also kurz vor ihrer Einbettung im Sediment begattet worden sein.
Ein zeitgenössischer Muschelkrebs
 
Bild: Renate Matzke-Karasz

Oben: Ein heutiger Muschelkrebs (Eucypris virens), Größe: 1,8 Millimeter.

Unten: Hohlraum eines weiblichen Exemplars von
Eucypris virens, zur Hälfte mit Spermien gefüllt.
Wettbewerb in der Reproduktion
Der Hintergrund: Die Reproduktionsmethoden und -strategien sind in der Natur höchst unterschiedlich und zum Teil bizarr. Im Wettbewerb um die gewünschte Partnerin müssen sich Männchen oft gegenseitig überbieten: Balztanz und prächtiger Federschmuck haben hier ihre evolutionären Wurzeln.

Die Weibchen einiger Arten lassen sich aber von mehreren Männchen begatten. In diesen Fällen sind die Rivalen also auch nach einer Paarung nicht aus dem Feld geschlagen, und der Konkurrenzkampf wird auf Ebene der Spermien fortgesetzt.

Da große Spermien unter bestimmten Umständen eine höhere Chance auf eine Befruchtung haben können, sind vereinzelt wahre Riesenzellen entstanden.
Auch Fruchtfliegen kennen Riesenspermien
Und zwar nicht nur bei den Muschelkrebsen. Die nur wenige Millimeter großen Männchen einer Fruchtfliegen-Art bilden Spermien von rund sechs Zentimetern Länge - die Relation auf den Menschen übertragen würde ein 40 Meter langes Spermium ergeben, hat die Uni München in einer Aussendung errechnet.

Aber auch von einigen Motten, Wasserwanzen und Fröschen sind gigantisch große Spermien bekannt. Manche Ostrakoden produzieren Spermien, die immerhin bis zu zehnmal so lang sind wie sie selbst.
Langfristig erfolgreiche Fortpflanzungsstrategie
Die Fortpflanzung mit Riesenspermien hat sich in dieser Gruppe der Ostrakoden bereits vor rund 100 Millionen Jahren entwickelt, bilanzieren die Forscher.

"Bis jetzt war unbekannt, ob Riesenspermien im Lauf der Evolution mehrfach aufgetreten sind, wie etwa bei der Fruchtfliege, oder ob sie in manchen Arten über Millionen Jahre stabil waren", erklärt die Paläontologin Matzke-Karasz.

"Diese Frage lässt sich jetzt wohl eindeutig beantworten: Die Riesenspermien sind zumindest in einigen Arten über lange Zeiträume hinweg produziert worden, obwohl sie für Männchen und Weibchen extrem kostspielig sind."

[science.ORF.at, 18.6.09]
->   Renate Matzke-Karasz, Uni München
->   European Synchrotron Radiation Facility
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01.01.2010