News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Islam und der Westen
Gemeinsame Wurzeln, verschiedene Geschichte
 
  Die westliche Welt und der Islam haben sich über Jahrhunderte hinweg gegenseitig kulturell befruchtet, sie tragen aber bis heute auch zahlreiche Konflikte aus. Dabei haben beide Kulturräume gemeinsame Wurzeln, die in der römischen Antike liegen.  
Der Frage, warum sie sich ab dem fünften Jahrhundert so unterschiedlich entwickelt haben, geht noch bis Samstagabend ein internationaler Kongress in Wien nach.

Walter Pohl, Mittelalterforscher und Wittgensteinpreisträger 2004, macht in einem Interview v.a. auf die unterschiedlichen Träger der politischen Herrschaft aufmerksam. Während dies im christlichen Westen mehrere auf Völkern basierende Reiche waren, war die religiös-politische Einheit im islamischen Osten viel stärker.
Bild: APA, Roland Schlager
Walter Pohl
Wie war die Ausgangsposition für die Mittelmeerländer am Ende der Antike?

Vor der Teilung in das Weströmische und Oströmische Reich sind der gesamte Mittelmeerraum und große Teile Europas noch immer in einem Reich zusammengefasst. ein Reich, das auf seinen Städten aufbaut und unter der Herrschaft eines christlichen Kaisers steht. Es handelt sich um einen einheitlichen Kulturraum in all seiner Vielfalt, mit intensivem Austausch von Ost nach West und von Nord nach Süd, angrenzend an das Sassanidische Persien.

Interessant ist nun zu beobachten, wie sich mit den politischen Umschwüngen in der Zeit zwischen dem fünften und siebenten Jahrhundert die verschiedenen Teile dieser ehemaligen Ökomene in ganz andere Richtungen zu entwickeln beginnen.
Was sind die Hauptgründe dafür?

Auffällig ist, dass im Westen Königreiche entstehen, die nach Völkern benannt sind, zunächst die der Vandalen, Goten, Burgunder, Franken, Angelsachsen, usw. Und das prägt langfristig die politische Landschaft in Europa.

In der islamischen Welt ist das ganz anders, hier gibt es zwar auch Stämme und ethnische Gruppen, sogar eine ganze Vielfalt davon. Aber sie sind nicht die Träger der politischen Herrschaft, das ist vielmehr der Repräsentant der islamischen Gemeinschaft. Es ist die Religion, die hier die Herrschaft fundiert. Das macht diese islamische Expansion anfangs so ungeheuer erfolgreich, hat aber in der weiteren Entwicklung auch strukturelle Hemmnisse eingebaut, die manchmal auch zur Stagnation führen können.
...
Der internationale Kongress "Visions of Community: Ethnicity, Religion and Power in the Early Medieval West, Byzantium and the Islamic World" dauert noch bis Samstagabend (20.6.).
Ort: Theatersaal der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Sonnenfelsgasse 19, 1010 Wien.
->   Tagungsprogramm (pdf-Datei)
...
Was ist der konkrete Unterschied, ob eine Gemeinschaft ihre Identität auf Ethnien und Völkern aufbaut oder auf Stammesstrukturen wie im Islam?

Zunächst einmal gibt es eine Gemeinsamkeit, und das ist diejenige einer Religion, die einen universellen Anspruch stellt und Gültigkeit für alle Völker beansprucht. Darin gründet auch die Einheitsvorstellung als christliche bzw. islamische Welt, die beiden Kulturen zugrunde liegt. Unterschiedlich ist, wie beide Kulturräume partikulare politische Herrschaft fundieren.

Europa hat dabei neben anderen vor allem das Prinzip der ethnischen Zugehörigkeit bevorzugt. Hier ist eine relativ stabile Landschaft von unterschiedlichen Staaten von England und Frankreich bis hin zu Dänemark, Schweden, Ungarn und Polen usw. entstanden, die durchaus auch aus der christlichen Lehre als Teil der Heilsgeschichte religiös fundiert sind. Die inneren Teilungen in dieser gegliederten politischen Landschaft sind auch religiös sanktioniert.
Im Islam ist das anders ...?

In der islamischen Welt ist das schwieriger, weil hier die Vorstellung der religiös-politischen Einheit viel stärker ist und auch versucht wird, den Stämmen und der Entfaltung ihrer Partikularinteressen nicht zu viel Raum zu geben.

Das führt dann dazu, dass die Teilung dieser islamisch-politischen Einheit, die im Lauf der Jahrhundert natürlich passieren musste, hauptsächlich in politische Einheiten erfolgte, die selber wieder diesen Universalitätsanspruch stellen: etwa das Fatimiden-Kalifat in Ägypten, das Umayyadische Kalifat in Cordoba oder auch das Osmanische Reich.

Sie alle streben danach, wieder die Gesamtheit des Islam zu repräsentieren. Insofern war es hier viel schwieriger, stabile politische Einheiten zu konstituieren, die nicht das Ganze repräsentieren wollen.
Dennoch oder gerade deswegen hat das Osmanische Reich ja recht lang bestanden ...

Ja, aber auch das Osmanische Reich hat den universellen Anspruch der Vertretung aller Gläubigen gestellt, und das dann auch politisch mit großem Erfolg zumindest in einem großen Teil der islamischen Welt durchsetzen können.

Das Problem ist dann nach dem Zerfall des Reichs aufgetreten, als sich einzelne Staaten gebildet haben, die auf europäische Vorstellungen eines Nationalstaats zurückgriffen. Der Irak z.B. erinnert aktuell daran, dass - aufoktroyiert von Engländern und Franzosen - Staaten entstanden sind, die nicht so leicht auf eine gemeinsame Tradition zurückgreifen konnten.
Das führt fast zwangsläufig zu der Frage: Warum sollten wir uns heute mit dem Frühmittelalter beschäftigen?

Zum einen weil der Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts stark mit den nationalen Ursprüngen dieser Epoche argumentiert hat. D.h. es gibt hier ideologische Verzerrungen, die zurechtgerückt werden müssen.

Zum zweiten ist das Fallbeispiel - die unterschiedlichen Entwicklungen nach dem Fall Roms - aufgrund einer gemeinsamen Ausgangsposition methodisch interessant dafür, um genauer zu verstehen, was eine Gemeinschaft zusammenhält, wie ethnische, aber auch religiöse Identitäten funktionieren und wie sie miteinander zusammen hängen.

Drittens zeigt gerade der Vergleich der islamischen und der westlichen Welt, dass beide noch viel zu wenig voneinander verstehen. In der Geschichte waren es immer wieder Missverständnisse, die zu politischen Konflikten geführt haben. Und diese haben wiederum die Missverständnisse verfestigt. D.h. hier geht es erst einmal darum, eine wissenschaftliche Aufarbeitung und nicht nur einen kurzschlüssigen politischen Gebrauch der Geschichte bieten zu können.
...
Radio-Hinweis
Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag des Ö1 Dimensionen Magazins am Freitag, 19.6, 19.05 Uhr, Radio Österreich 1.
->   Mehr zu der Sendung
...
Im Auditorium der Tagung habe ich niemanden ausmachen können, der zumindest auf den ersten Blick islamischer Herkunft ist - wie sieht die Zusammenarbeit mit Vertretern islamischer Länder in dem Projekt aus?

Die Tagung reflektiert als ersten Schritt aus westlicher Sicht die westliche Beschäftigung mit der islamischen Welt. Es gibt gerade in Wien eine lange Tradition damit - und auch hier sowohl einen schwärmerischen Überschwang, eine Glorifizierung des Orients im sogenannten Orientalismus, als auch die Kultivierung gewisser Vorurteile. D.h. zunächst einmal ist eine kritische Überprüfung unseres westlichen, auch wissenschaftlichen Blickes auf die islamische Welt angesagt.

Den Dialog mit den islamischen Gelehrten, die islamische, aber auch westliche Geschichte betreiben, müssen wir im nächsten Schritt intensiv suchen. Das ist uns bei dieser Konferenz noch nicht gelungen.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 19.6.09
...
Das durch den Wittgenstein-Preis 2004 an Walter Pohl finanzierte Großprojekt "Ethnische Identitäten im Frühmittelalter" läuft am Institut für Mittelalterforschung der ÖAW noch bis Ende 2010, an die 15 Forscher und Forscherinnen v.a. aus dem Nachwuchsbereich sind darin beschäftigt. Neben einer großen Abschlussveranstaltung im Herbst kommenden Jahrs sind noch mehrere Publikationen zum Thema geplant, auch von der aktuellen Konferenz wird es einen Tagungsband geben.
->   Institut für Mittelalterforschung, ÖAW
...
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Dschihadismus: Nachtseite der Moderne
->   Islam im Internet: Fatwa, Politik und Heiratsagenturen
->   Wittgensteinpreis 2004 an den Historiker Walter Pohl
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010