News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Leo Strauss: Vater des Neokonservatismus  
  Der 1899 in Deutschland geborene Philosoph Leo Strauss ist in Europa nahezu unbekannt. In den USA, der neuen Heimat des jüdischen Emigranten, zählt Strauss bis heute zu jenen politischen Denkern mit dem meisten Einfluss. Vermittelt über seine Schüler hat er zum Erstarken der neokonservativen Bewegung in den 1980er Jahren beigetragen.  
Vor dem Irak-Krieg 2003 wurde vor allem die Rolle des Beraterstabs von US-Präsident George W. Bush diskutiert, der sich aus zahlreichen Strauss-Apologeten zusammensetzte.

Der Philosoph und Religionswissenschaftler Stephan Steiner beleuchtet in einem Interview die Hintergründe von Strauss' Denken - und geht auch der Frage nach, ob Bush es tatsächlich in die Tat umgesetzt hat.
Wieviel Prozent Strauss steckten in der Politik der neokonservativen Clique rund um George W. Bush?

Man muss unterscheiden: Die faktische politische Einflussnahme tendiert gegen Null Prozent. Etwas anderes sind die politischen Ideen, die der Neokonservatismus vertritt: eine Kritik des Gleichheitsideals, ein elitäres Verständnis von Bildung, ein eher imperiales Verständnis von Weltpolitik. Das sind Ideen, die stark mit Strauss zusammenhängen und die er aus dem Deutschland der Zwischenkriegszeit - Stichwort konservative Revolution - nach Amerika transferiert hat.

Die Schüler von Strauss haben ihn dann richtig bekannt gemacht ...

Was wirklich Aufmerksamkeit erregt hat, war das Buch "The Closing of the American Mind" in den 1980er Jahren, geschrieben von Alan Bloom, einem Schüler und Intimus von Strauss. Darin popularisiert er das Denken seines Lehrers, u.a. seinen Elitenbegriff, sein Pochen auf der Notwendigkeit eines Kanons zum Schutz der Freiheit, die Anklage, wonach die offene Gesellschaft - etwa durch Homosexuellenbewegung und Feminismus - die westlichen Freiheitskonzepte in ihrem normativen Gehalt unterminieren würde.
Wie wichtig war Bloom für die Diskussion in den USA?

Unglaublich wichtig, in Amerika wurde er durch die vielen Auflagen seines Buchs Millionär, während er in Europa nahezu unbekannt blieb. Das Buch hatte eine enorme Wirkung auf den intellektuellen Diskurs des konservativen Milieus und muss im Zusammenhang mit dem Wiederaufleben des Konservatismus in den 80er Jahren unter Reagan gesehen werden. Während der 60er und 70er Jahre waren diese Strömungen durch die kulturelle Prägekraft der Neuen Linken sehr an den Rand gedrängt.

Wie steht die Bush-Clique nun zu Alan Bloom?

Sowohl er als auch Francis Fukuyama, der dann mit seiner These vom "Ende der Geschichte" bekannt wurde, sind Schüler von Strauss, bei denen einige Mitarbeiter der Bush-Administration studiert haben, etwa Paul Wolfowitz und Richard Perle.
...
Vortrag in Wien
Stephan Steiner hält am Montag, 29. Juni, 18 Uhr c.t. den Vortrag "Leo Strauss, die Neokonservativen und die deutsche Philosophie in Amerika".
Ort: IFK, Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   Mehr über den Vortrag
...
Gibt es Beispiele der Politik von Bush, bei denen man sagen kann: Das ist aber jetzt typisch Strauss?

Mann kann konkrete Politik nicht unmittelbar auf seine Ideen zurückführen. Was Strauss aber sehr wohl gemacht hat, war ein akademisches Milieu mit bestimmten Vorstellungen zu prägen: z.B. was die Voraussetzungen von Freiheit betrifft. Das ist aber nicht 1:1 in Politik übersetzt worden.
Vielleicht gibt es ja doch Beispiele dafür: Strauss war etwa der Ansicht, dass für die meisten Menschen Religion notwendig für ein geordnetes Leben ist. Nur einer elitären Minderheit sei es vergönnt "frei zu denken", ihnen stünden selbst "edle Lügen" zu, um die Ordnung aufrecht zu erhalten. Gegner der Neocons haben solche Lügen bei der Rechtfertigung des Irak-Feldzugs entdeckt und Parallelen zu Strauss gezogen.

Eine Antwort auf diese Darstellung muss stark differenzieren. Angespielt wird hier auf das, was Strauss als das "theologisch-politische Problem" verhandelt. Kurz gesagt bedeutet es Folgendes: Strauss ist einerseits radikal antrireligiös, er nimmt die Haltung des Philosophen ein und baut eine große Opposition zwischen Religion und Vernunft auf.

Umgekehrt verteidigt er in einer bestimmten Phase seines Denkens aber auch die Theokratie, indem er auf die arabische und jüdische Philosophie des Mittelalters rekurriert, die er den neuzeitlichen politischen Ideen des Individualismus und des Utilitarismus als bessere Alternative entgegensetzt. Bei diesen Philosophien seien weltliche und religiöse Macht noch nicht getrennt gewesen - für Strauss war das eine Antwort auf die totalitären Regimes seiner Zeit, vor allem der Kommunisten, aber auch der Nazis.

Das Argument lautet: Die Massen können keine Philosophen sein und verstehen die komplexen Zusammenhänge ohnehin nicht, deshalb braucht man für sie die Religion, damit sie geleitet werden und ihre Pflicht nicht vergessen. Die Religion ist die Popularisierung dessen, was sich die Philosophen intellektuell aneignen, die Notwendigkeit von Pflicht, Ordnung, Hierarchien und Opfern.
Das klingt ja fast danach, dass man - um ein aktuelles Beispiel zu zitieren - den Wächterrat im Iran mit Strauss verteidigen könnte.

Das könnte sein.

Das überrascht, wenn man daran denkt, dass die Neocons die westliche Demokratie im Nahen Osten auch mit Waffengewalt verbreiten wollten ...

Die Problematik, die Strauss beschreibt, hat zwei Gesichter. Zum einen gibt es jene, vermeintlich rückständigen Gesellschaften, in denen ein anderes Verhältnis von Religion und Politik herrscht als in den westlichen Staaten.

Zum anderen werden diese Kulturkämpfe auch im Westen intensiv ausgetragen - zwischen Liberalen und Konservativen, die der Religion eine zentrale Rolle für die Ordnung der Gesellschaft zuweisen, die einen Elitenbegriff haben, die sich nach einer Leitkultur sehnen usw. In Europa hieß die Chiffre für diesen Kulturkampf "1968", in den USA ist er aber noch viel deutlicher sichtbar.

Das Säkularisierungstheorem, das von Max Weber bis 2001 das sichere Dogma der Modernisierung war, ist brüchig geworden.
In dieser Erzählung der Modernisierung ist die Trennung von Staat und Religion fundamental. Will sie Strauss aufgeben?

Strauss will zurück vor die Aufklärung, hin zu einem platonischen Vernunftideal, in dem der Konflikt zwischen Religion und Vernunft angeblich noch nicht besteht. Das halte ich auch für die Grenze von Strauss. Seine Lösung - der radikale Dualismus von Vernunft und Offenbarung - ist für die Debatten der Gegenwart wenig hilfreich. Was aber nach wie vor wichtig ist: Strauss weist auf das nichtgeklärte Verhältnis von Religion und Staat hin.

Worin besteht das platonische Ideal der Versöhnung von Vernunft und Offenbarung?

Es ist keine Versöhnung. Strauss' Argument geht so: Zuerst baut er einen Dualismus auf - die Religion ist bei ihm das, was Autorität braucht, was gehorcht, das Hörende; die Philosophie das, was selber denkt, sie beruht nicht auf Gehorchen, sondern ist die freie Einsicht in die Notwendigkeit von Gesetzen, Hierarchien, Gemeinschaft usw.

Nachdem er diese Polarität aufgebaut hat, sagt er: Wenn wir fragen, wem wir folgen wollen - der Religion oder der Philosophie -, dann fragen wir ja schon. Dann sind wir ja immer schon Philosophen. Jede Form der kritischen Nachfrage, der Reflexion und Diskussion ist bei Strauss immer schon Philosophie.
Deshalb ist er auch Sokratiker und nicht Priester?

Ja, deshalb ist er Sokratiker. Es geht ihm darum, die Frage nach dem guten Leben zu erneuern, und das kann nur säkular und philosophisch geschehen. Insofern ist er auch eher ein Religionsfresser.

Sein Verhältnis zur Religion ist also zumindest ambivalent zu nennen?

Ja, denn warum verteidigt er andererseits die Religion? Weil er damit die Moderne kritisieren kann. Er vertritt zwar eine radikal philosophische Tradition, der er die Religion scharf gegenüber stellt, doch noch weniger als Religion kann er Aufklärung, Individualisierung, Historismus, die Relativierung von Weltanschauungen und Positivismus leiden.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 26.6.09
...
Stephan Steiner studierte Philosophie, ev. und kath. Theologie sowie Literaturwissenschaften an den Universitäten Innsbruck, Tübingen und Paris. Er promoviert am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt. Seit dem Wintersemester 2006 ist er dort Kollegiat, im Sommersemester 09 ist er Junior Fellow am IFK in Wien.
->   Stephan Steiner, IFK
...
->   Leo Strauss, Wikipedia
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010