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Mehr Morde und Selbstmorde durch die Krise  
  Die Wirtschaftskrise wird sich auch auf die Gesundheit der Menschen auswirken. Mit jedem Prozent mehr an Arbeitslosen steigt die Zahl von Selbstmorden und Morden. Dies geht aus der bisher umfangreichsten Studie hervor, die den statistischen Zusammenhang von Wirtschaftsentwicklung und Gesundheit untersucht hat.  
Die Daten von 26 heutigen EU-Staaten wurden dabei über einen Zeitraum von fast 40 Jahren verglichen. Gute Nachrichten gibt es auch: Immerhin sinkt die Zahl von Autounfällen in Zeiten wirtschaftlicher Rezession. Und mit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik lassen sich die negativen Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung wieder ausgleichen.
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Die entsprechende Studie "The public health effect of economic crises and alternative policy responses in Europe: an empirical analysis" ist am 8. Juli online in "The Lancet" (doi: 10.1016/S0140-6736(09)61124-7) erschienen.
->   Abstract der Studie
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26 EU-Staaten, 37 Jahre
Dass der Gesundheitszustand einer Bevölkerung mit ihren sozioökonomischen Rahmenbedingungen zusammenhängt, ist lange bekannt - die Sozialmedizin hat dies zu ihrem Gegenstand gemacht.

Um einen Ausblick darauf zu geben, wie sich die aktuelle Wirtschaftskrise auf die Gesundheit auswirken könnte, hat ein Team um den Sozialepidemiologen David Stuckler von der Universität Oxford eine bisher beispiellose Studie vorgestellt.

Die Forscher untersuchten anhand von Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Todesraten und Todesursachen von 26 heutigen EU-Staaten - inklusive Österreich - im Zeitraum von 1970 bis 2007. Diese verglichen sie mit den offiziellen Arbeitslosenstatistiken der Internationalen Arbeitsorganisation ILO sowie der Entwicklung von Bruttosozialprodukt und Ausgaben für Soziales und Gesundheit in den jeweiligen Ländern.
Ein Prozent mehr Arbeitslose - 0,8 Prozent mehr (Selbst-)Morde
Es zeigte sich, dass sich mit jedem Prozent Plus an Arbeitslosen die Selbstmordrate von Unter-65-Jährigen um 0,8 Prozent erhöhte, das wären hochgerechnet auf den gesamten EU-Raum um bis zu 550 Selbsttötungen mehr pro Jahr. Während die Mordrate durch das Ansteigen der Arbeitslosigkeit ebenfalls um 0,8 Prozent wuchs, hat sich die Anzahl von Autounfällen um 1,4 Prozent reduziert.

Wenn die Arbeitslosigkeit innerhalb eines Jahres um mehr als drei Prozent angestieg, waren die Effekte sogar noch dramatischer. In diesen Fällen erhöhte sich die Selbstmordanzahl um 4,5 Prozent, das wären statistisch hochgerechnet 3.000 Selbstmorde mehr pro Jahr im EU-Raum.

Auch die Zahl der Todesfälle, die auf Alkoholmissbrauch zurückgehen, verstärkte sich dabei deutlich - um 28 Prozent.
Weniger Autounfälle: Gut für junge Männer
Stärker von Gesundheitsproblemen durch Arbeitslosigkeit betroffen sind jüngere Menschen, keine signifikanten Unterschiede gibt es zwischen Frauen und Männern. Die allgemeine Sterblichkeit erhöhte sich durch den Anstieg der Arbeitslosenzahl nicht, betonen die Forscher.

In einer Gruppe reduzierte sie sich sogar: bei Männern im Alter zwischen 15 und 29 Jahren - und dies mag mit der verminderten Anzahl an Autounfällen zu tun haben, die für ein Drittel aller Toten in dieser Altersgruppe verantwortlich sind.
Positive Ausnahmen: Finnland und Schweden
Nur zwei Ländern in Europa gelang es nach Angaben der Forscher, die Mord- und Selbstmordraten von der Arbeitslosenstatistik zu entkoppeln: Finnland und Schweden. In beiden Ländern kam es in den frühen 90er Jahren zwar auch zu einem mehr als dreiprozentigen Anstieg der Arbeitslosenquote innerhalb von zwölf Monaten, die Selbstmordraten sanken aber sogar.

"Die Übereinkunft der beiden Regierungen der Länder, auch in Zeiten der Krise Sozialunterstützungen zu gewährleisten - etwa durch aktive Arbeitsmarktprogramme - könnte dabei eine Rolle gespielt haben", schreiben die Forscher in ihrer Studie.
Effekt-Umkehr: 135 Euro pro Person und Jahr
Und sie haben diese Aussage nicht im Konjunktiv belassen, sondern auch konkrete Summen errechnet: Jede zehn Dollar (7,2 Euro), die der Staat für Wohngeld, Familienunterstützung und Arbeitslosenhilfe ausgebe, reduzierten die Selbstmordrate um 0,038 Prozent. Wenn ein Land mehr als 135 Euro pro Person und Jahr für aktive Arbeitsmarktpolitik ausgibt, dann gleicht dies die negativen Gesundheitseffekte steigender Arbeitslosigkeit aus. Mit anderen Worten: Dann steigen die Mord- und Selbstmordraten nicht an.

Zurzeit ist es aber nicht einmal die Hälfte aller EU-Staaten, die solche Sozialausgaben leisten, speziell in Osteuropa ist die Summe deutlich geringer. Deshalb glauben David Stuckler und Kollegen auch, dass osteuropäische Länder von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise innerhalb Europas am stärksten betroffen sein werden.

"Finanzkrisen verlangen vielen Menschen viel ab, es muss aber nicht ihr Leben kosten", meint Stuckler. "Unsere Studienresultate zeigen, dass aktive Arbeitsmarktpolitik sowohl der Wirtschaft hilft als auch Menschenleben retten kann."

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 8.7.09
->   David Stuckler
->   The Lancet
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01.01.2010