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Neue Lerntheorien in der Ökonomie  
  Die herkömmliche ökonomische Theorie vernachlässigt die Tatsache, dass Menschen in Entscheidungssituationen lernen und das Erlernte in neue Strategien einfliessen lassen. Neue Experimente zeigen, dass die Berücksichtigung von Lerntheorien die Prognosen ökonomischer Modelle deutlich verbessert.  
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Psychologische Grundlagen der Ökonomie
"Geld, Glück und Ungeduld" ist das Thema der Europäischen Wissenschaftstage Steyr 2001 von 2. bis 5. Juli 2001, die sich mit den sozialen und psychologischen Grundlagen des Wirtschaftslebens befassen werden.

In Kooperation mit den Wissenschaftstagen Steyr und der Neuen Zürcher Zeitung bringt science.orf.at in gekürzter Form einen Originalbeitrag von Colin Camerer, Professor für Business Economics am California Institute of Technology, Passadena.
->   Europäische Wissenschaftstage Steyr
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Der lange Weg ins Gleichgewicht
Ein Originalbeitrag von Colin Camerer

Zu den eindrücklichsten Eigenschaften des menschlichen Gehirns zählt seine Lernfähigkeit. Trotzdem wird in der herkömmlichen ökonomischen Theorie das Phänomen des Lernens weitgehend ignoriert.

Statt dessen wird in den Wirtschaftswissenschaften nach dem Vorbild der Physik versucht, die Komplexität des sozialen Verhaltens auf Gesetze zu reduzieren, die einfach genug sind, um sie auf ein T-Shirt zu drucken.
Langsame Anpassung
Eine von der Physik übernommene Idee ist jene des Gleichgewichts. In einem ökonomischen Gleichgewicht haben sich Konsumenten, Arbeiter und Unternehmungen so angepasst, dass sie ihren Nutzen unter den gegebenen Beschränkungen nicht weiter erhöhen können.

Doch in der Realität braucht es eine gewisse Zeit bis Menschen und Organisationen sich an neue Situationen anpassen und 'ins Gleichgewicht kommen'.
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Nach der Wende
Ein anschauliches Beispiel dafür liefert die Privatisierung in den ehemaligen kommunistischen Ländern. Nach dem Fall der Berliner Mauer schwärmten die Ökonomen in die exkommunistischen Länder aus, um dort kapitalistische Institutionen wie Privateigentum, Aktienbörsen sowie hoch entwickelte Methoden der Buchführung und der öffentlichen Finanzberichterstattung einzuführen.

Der Kapitalismus sollte 'chirurgisch' implementiert werden. Doch die Ökonomen hatten nicht bedacht, dass Menschen eine gewisse Zeit brauchen, um sich auf veränderte Bedingungen einzustellen. In der Folge kam es zu Streiks und Protesten.
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Lernexperimente
Glücklicherweise beginnt sich die Situation in der ökonomischen Forschung zu ändern. Seit kurzem wird an Lerntheorien gearbeitet, die die Auswirkungen individueller Entscheidungen auf das Verhalten anderer modellieren.

Eine gute Möglichkeit das Lernverhalten zu studieren, stellen Experimente dar. Eines dieser Lernexperimente simuliert die Konkurrenz zwischen zwei Einzelhandelsgeschäften, die dasselbe Produkt verkaufen.
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Bonus und Malus
In diesem Experiment wird den beiden Versuchspersonen, die die Rolle der Verkäufer übernehmen, die Aufgabe zugewiesen, gleichzeitig und ohne Absprache einen Preis zu verkünden. Die Konsumenten beobachten die beiden Preise und feilschen darum, das Produkt zum niedrigeren Preis auch vom anderen Verkäufer zu beziehen.

Ausserdem wird der billigere Anbieter mit einem Bonus in der Höhe von R belohnt, während der teurere Anbieter eine Strafe in derselben Höhe zu gewärtigen hat. Angenommen, Sie sind ein Verkäufer, der in Konkurrenz zu einem anderen Verkäufer steht. Welchen Preis würden Sie ankündigen (unter der Annahme, dass die Produktion des Gutes nichts kostet)? Wie würde er von der Höhe der Belohnung bzw. der Bestrafung abhängen?
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Das Zwei-Verkäufer-Spiel
Die Voraussage der herkömmlichen ökonomischen Theorie für dieses Zwei-Verkäufer-Spiel ist simpel und, wie wir sehen werden, falsch. Gemäss dieser Theorie sollten Sie immer versuchen, der billigere Verkäufer zu sein. Falls der andere Verkäufer nämlich den niedrigeren Preis ankündigt, wird auch Ihnen nichts anderes übrig bleiben, als das Produkt zu diesem Preis zu verkaufen, da sonst niemand von Ihnen das Gut beziehen will.

Nur Sie allein aber werden bestraft, während Ihr Konkurrent die Belohnung einstreicht. Optimal wäre es, den Preis des anderen Verkäufers um eine Einheit zu unterbieten. In diesem Fall erhalten Sie statt der Strafe die Belohnung.
Wenn nicht nur Sie, sondern auch der andere Verkäufer so denkt, besteht das Gleichgewicht darin, dass beide Verkäufer zu einem Preis von Null offerieren - und zwar unabhängig von der Höhe der Belohnung resp. der Strafe. Bei jeder anderen Preiskonstellation könnte sich ein Verkäufer besserstellen, indem er seinen Preis marginal reduziert, um der Strafe zu entgehen und stattdessen die Belohnung zu kassieren.
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Lerntheorien
Es existieren zwei wichtige Lerntheorien: das Bekräftigungslernen (Reinforcement learning) sowie das Vermutungslernen (Belief learning). Die Theorie des Bekräftigungslernen stammt aus der Verhaltensforschung der 30er Jahre.

Tiere drücken mit grösserer Wahrscheinlichkeit einen Hebel, wenn sie in der Vergangenheit dafür Futter als Belohnung erhalten haben. Menschen reagieren ebenfalls auf vorangegangene Bekräftigung. Sie fürchten sich etwa vor dem Reiten, wenn sie einmal vom Pferd gefallen sind. Beim Vermutungslernen schliessen Menschen von Beobachtungen vergangener Handlungen auf zukünftige.
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Aus zwei mach eins
Nehmen Sie an, dass Ihr Konkurrent im Preiskonkurrenz-Experiment in der ersten Runde einen Preis von 50, in der zweiten Runde einen Preis von 40 Geldeinheiten wählte. Die Theorie des Vermutungslernen geht davon aus, dass Ihre Voraussage für das Preissetzungsverhalten Ihres Konkurrenten für die nächste Runde zwischen 40 und 50 Geldeinheiten liegen wird.

Optimalerweise setzen Sie Ihr Preisangebot gerade unterhalb dieser Projektion an. Vermutungslernen prognostiziert demnach, dass die Preise über die Zeit sinken. Doch wie das Experiment zeigt, ist dies nicht immer der Fall.
Bekräftigungs- und Vermutungslernen
Teck-Hua Ho von der Wharton Business School und ich haben eine neue mathematische Lerntheorie entwickelt, die einer Kombination von Bekräftigungs- und Vermutungslernen entspricht. Unsere Theorie berücksichtigt einerseits, dass Menschen Strategien wiederholen, die sich in der Vergangenheit bewährt haben. Daneben trägt unsere Theorie aber auch dem Vermutungslernen Rechnung.

Unsere Theorie passt nicht für jede Drehung und Wendung in den Daten, aber sie sagt korrekt die allgemeinen Trends für die beiden Werte des Belohnungs- bzw. Bestrafungsparameters voraus. Tatsächlich hätten 90% der Teilnehmer insgesamt 10% mehr verdienen können, wenn sie unserer Theorie gefolgt wären.
Anwendungen
Eine Anwendung unserer Lerntheorie ausserhalb des Labors stammt von Teck-Hua Ho und Juin Kuan Chong von der National University of Singapore.

Konsumenten, die im Supermarkt ein bestimmtes Produkt bevorzugen, sollten auch eine Vorliebe für andere Produkte mit ähnlichen Eigenschaften entwickeln. Der Verzehr einer köstlichen Halbliter-Portion Häagen-Dazs Rocky Road Eiscrème sollte daher den Absatz aller Häagen-Dazs Eissorten erhöhen, aber auch denjenigen für jede andere Eiscrème mit Rocky Road-Geschmack sowie für jedes Eis, das in der Halbliter-Verpackung verkauft wird.

Diese Hypothese wurde an 130 000 tatsächlichen Entscheidungen amerikanischer Konsumenten in 16 Produktkategorien bestätigt. Unsere Lerntheorie konnte dabei die Umsätze um etwa 10% besser prognostizieren als alternative Theorien. Unternehmen können die neue Lerntheorie daher gut gebrauchen, wenn sie die Popularität eines neuen Markenprodukts einschätzen wollen, das vertraute Charakteristika anderer Produkte auf sich vereint.


Colin Camerer, Professor für Business Economics am California Institute of Technology, Passadena
->   Neue Zürcher Zeitung
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01.01.2010