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Vertrauen ist das Wichtigste
Nach dem blutigen Bürgerkrieg in Sierra Leone
 
  Dass Vertrauen eine Grundvoraussetzung für eine funktionierende Gesellschaft ist, wurde spätestens mit der aktuellen Finanzkrise wieder klar. Wenn Banken keine Kredite mehr geben, weil sie ihren Kunden nicht mehr trauen, dann ergibt sich bald ein Dominoeffekt. Noch viel dramatischer sind die schädigenden Auswirkungen von Misstrauen in einer Gesellschaft, in der jahrelang ein grausamer Bürgerkrieg geherrscht hat wie im westafrikanischen Sierra Leone.  
Bild: Shelby Carpenter
Shelby Carpenter mit einem weiteren Mitglied einer geheimen Jagdgesellschaft
Rund 100.000 Menschen sind ihm zwischen 1991 und 2002 zum Opfer gefallen, rund die Hälfte der fünf Millionen Einwohner musste ihre Heimat verlassen. Zigtausende Personen leben seither mit Amputationen, denn das Abschneiden von Händen oder Füßen gehörte zum "Kennzeichen" der Revolutionary United Front, die gegen die Regierung kämpfte.

In einer Gesellschaft wie in Sierre Leone zu forschen ist nicht gerade einfach, zumal wenn man jemand ist wie Shelby Carpenter: eine weiße Sozialanthropologin mit blonden Haaren, geboren in den USA. Dennoch hat sich Carpenter mehrere Jahre in Westafrika aufgehalten und dabei die wichtigste "Währung" des Versöhnungsprozesses der Nachkriegszeit behandelt: Vertrauen und Misstrauen.

Eine entscheidende Rolle spielen dabei geheime Jagdgesellschaften, die als traditionelle Netzwerke des Vertrauens fungieren.
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Shelby Carpenter ist Sozialanthropologin an der Boston University und derzeit als Junior Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien tätig.
->   IWM
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Eine Geschichte der Entwurzelung
Die Geschichte Sierra Leones und seiner umgebenden Länder in Westafrika war seit den Zeiten der Kolonialisierung eine von Entwurzelung. Ein Hauptteil der Menschen für den transatlantischen Sklavenhandel stammt von hier. Als die Sklaverei zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach und nach verboten wurde, kehrten viele samt ihren Nachfahren wieder heim.

Seine politische Unabhängigkeit von Großbritannien erlangte Sierra Leone erst 1961, die politische Instabilität erlebte ihren Höhepunkt in dem grausamen, zwölf Jahre dauernden Bürgerkrieg, in dem Kindersoldaten eine traurige Berühmtheit erlangten. Heute leckt das Land seine Wunden, die durchschnittliche Lebenserwartung zählt ebenso wie die wirtschaftliche Entwicklung zu den niedrigsten der Welt.

Wie die Einwohner Sierra Leones mit den erlittenen Traumata umgehen, hat Shelby Carpenter eineinhalb Jahre lang untersucht. Zwischen 2004 und 2006 lebte sie als Teil der Familie eines angesehenen Anwalts in der Landeshauptstadt Freetown, mit ihr 13 durch den Krieg zu Waisen gewordene Kinder.
Traumata sind nicht individuell heilbar
Gegenüber klassischen Erklärungen von Kriegstraumatisierung und ihrer Behandlung ist Carpenter aufgrund ihrer Erfahrung sehr skeptisch: Trauma als etwas zu verstehen, das das Individuum betrifft und auch individuell durch z.B. Reden behandelt werden muss, ist eine sehr westliche Vorstellung. "In Sierra Leone funktioniert das nicht, hier ist alles viel gemeinschaftlicher. Der Begriff 'Individuum' ist für die Einwohner nicht vorwiegend positiv, sich nur auf ihn zu beziehen, klingt für sie eher verrückt."

Was nicht heißt, dass die Sierra Leoner das Wort nicht anwenden - allerdings anders als intendiert. "Es ist eigenartig. Sie kennen das Wort, es stammt aber aus einer für sie fremden Welt. Wenn sie sagen: 'Ich bin traumatisiert', dann tun sie das, weil sie wissen, dass man dafür Geld von einer Hilfsorganisation bekommt. Trauma ist für sie genauso ein Buzzword wie Kindersoldat", so Carpenter.
Überstülpen westlicher Konzepte
Statt westliche Konzepte überzustülpen sollte man sich lieber auf die vorliegenden Strukturen des Landes beziehen, meint die Anthropologin. Und das betrifft auch den so schwierigen Prozess der Versöhnung. Der von den Vereinten Nationen eingesetzte Sondergerichtshof war z.B. ein Schritt in die falsche Richtung.

"Er wurde eröffnet, damit Menschen hingehen und ihre Geschichten erzählen. Das hat aber niemanden interessiert, dem künstlich eingesetzten Gericht wurde nicht vertraut. Die Menschen wollten nichts mehr hören von den Gräueltaten, sie waren ja ohnehin dabei, stattdessen wollten sie lieber vergessen und nach vorne schauen", berichtet Carpenter.

Viel wichtiger als die Behandlung von "posttraumatischen Belastungsstörungen", wie es die westliche Medizin vorsieht, sei in Sierra Leone heute die Frage von Vertrauen und Misstrauen. "Hier sind die traditionellen Netzwerke des Vertrauens erschüttert. Der Staat ist schwach, seine Politiker korrupt. NGO's und Vereinte Nationen verteilen zwar Geld, aber die Resultate kann man nicht sehen - es gibt kaum reparierte Straßen oder Schulen", so Carpenter. In einer solchen Situation sollte man auf andere, informelle Netzwerke zurückgreifen.
Geheime Jagdgesellschaften
Solche stellen die "Creole (Krio) Hunting Societies" dar, die Carpenter während ihres Aufenthalts in Sierra Leone untersucht hat. Dabei handelt es sich um geheime Jagdgesellschaften in Städten, für die es in westlichen Gesellschaften wenig Vergleiche gibt, am ehesten könnte man sagen, dass sie wie Freimaurerlogen funktionieren.

Die Tradition der Jagdgesellschaften geht ins 19. Jahrhundert auf den Stamm der Yoruba in Nigeria zurück, sie wurden nach der Rückkehr der ehemaligen Sklaven gebildet. Die untereinander geteilten "Geheimnisse" bestehen in altem medizinischem und religiösem Wissen. Jede der Jagdgesellschaften hat eine Hütte und einen Heiligenschrein mit einer Statue des Gottes Ogun, dem Jagdgott der Yoruba.

Heute gibt es allein an die 150 Societies in Freetown, ungezählte weitere sind über die ganze Welt verstreut. Zum einen treffen sich die Mitglieder zu bestimmten Zeiten tatsächlich zur Jagd, zum anderen führen sie kultische Tänze auf und tradieren altes medizinisches Wissen sowie religiöse Praktiken. Die Societies haben jeweils zwischen 30 und 200 Mitglieder, und da sie weit verbreitet sind, spielen sie auch eine wichtige Rolle in transnationaler Kommunikation. Carpenter gelang es, selbst Mitglied in einer der - vorwiegend, aber nicht ausschließlich mit Männern besetzten - Gruppen zu werden.
Netzwerke des Vertrauens
 
Bild: Shelby Carpenter

Geheime Jagdgesellschaft in Banjul, Gambia. Auch hier hat Shelby Carpenter ein halbes Jahr lang geforscht.

Sierra Leone ist ein Land, das durch extremes soziales Misstrauen geprägt ist. Die Hunting Societies dagegen sprechen laut der Forscherin beispielhaft Momente der Vertrauensbildung an. Sie sichern den Mitgliedern, die aus allen Schichten der Gesellschaft kommen, vom Rechtsanwalt bis zum arbeitslosen Jungendlichen, ein Netzwerk, Schutz durch den Gott Ogun, Solidarität und Brüderlichkeit. Man hilft einander und steht füreinander ein.

Sie dienen auch der Integration nach dem Krieg. "In einigen Fällen akzeptieren die Jagdgesellschaften ehemalige Soldaten", sagt Carpenter. "In den Initiationsriten, die man vor der Aufnahme durchwandern muss, werden Loyalität und Vertrauenswürdigkeit geprüft. In gewisser Weise findet so eine Umerziehung statt, eine Wiedereingliederung in die Gemeinschaft. Die Geheimgruppen bieten ihnen einen Platz, wo sie hingehören. Aus anthropologischer Sicht ist außerdem zu sagen: Wenn Geheimnisse geteilt werden, bildet das Vertrauen."

Dieses Vertrauen in grundlegende Dinge wiederzugewinnen hält Carpenter für das Wichtigste in der derzeitigen Situation Sierra Leones. Hunting Societies seien dazu ein, aus dem Inneren des Landes kommender und nicht von außen aufgepfropfter Weg. "Ich bin nicht sicher, ob die Außenwelt sehr viel tun kann und werde auch immer skeptischer gegenüber der aktuellen Entwicklungspolitik. Manchmal kann sie zu noch mehr Abhängigkeit und Problemen führen."
Stabilität, Sicherheit und Normalität
 
Bild: Shelby Carpenter

Kinder imitieren die Verkleidungen der Geheimgesellschaften

Was sich ihre Freunde und Bekannten in dem afrikanischen Land am meisten wünschen, sind vermeintlich einfache Dinge: Schulen, Straßen, Zugang zu Trinkwasser, Gesundheitsversorgung. Ganz prinzipiell: "Stabilität und Sicherheit um Vertrauen wieder herzustellen."

Und das sei auch einer der Gründe, warum die Hunting Societies so erfolgreich sind. Sie haben zwar nicht so viele Mitglieder, aber viele Tausende verfolgen ihre Aufführungen. "Ganz einfach, weil sie hier wissen, was sie erwarten dürfen. Die Zuschauer kommen zu einer gewissen Zeit und verfolgen diese Tänze oder jene Gesänge, und das ist für sie vorhersehbar. Diese Vorhersehbarkeit und Normalität sind am wichtigsten", sagt Shelby Carpenter. Und lächelt dabei selbst sowohl vertrauensvoll als auch vertrauenswürdig.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 9.7.09
->   Boston University, Department of Anthropology
->   Bürgerkrieg in Sierra Leone (Wikipedia)
 
 
 
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01.01.2010