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Terroristensuche mit Netzwerkanalyse  
  Geheimdienste wollen Terroristen finden, indem sie deren soziale Kontakte durch Netzwerkforscher analysieren lassen. Manchmal könnten dabei jedoch auch Unschuldige ins Netz und damit ins Gefängnis geraten.  
Hysterische Agenten
"Die U.S.-Regierung wandte sich an jeden; die Geheimdienste waren vollkommen hysterisch." So beurteilt Marc Sageman von Zentrum für Terrorismusbekämpfung am Foreign Policy Research Institute in Philadelphia die Reaktion nach den Anschlägen vom 11. September 2001.

Seither setzen Militär und Geheimdienste nebst traditionellen Methoden auch auf die Netzwerkanalyse. Sie untersucht die Kontakte zwischen den beteiligten Personen und soll so helfen, diese ausfindig zu machen und geplante Anschläge zu verhindern, wie "Science" in seiner aktuellen Ausgabe schreibt (Bd. 325, S. 409).
Projektteam "Terroranschlag"
"Eine terroristische Zelle ist im Wesentlichen ein Projektteam wie jedes andere", sagt der Netzwerkanalytiker Valdis Krebs gegenüber "Science". Krebs war einer der ersten, der von den Agenten kontaktiert wurde. Kurz nach dem Anschlag vom 11. September veröffentlichte er ein erstes grobes Bild der Verbindungen zwischen den 19 Attentätern ("Connections" 2001, Bd. 24, S. 43, pdf).

Krebs und andere Netzwerkforscher seien Ende 2001 oft zu Treffen nach Washington eingeladen worden. Ab dem Jahr 2003 haben die Forscher neben den bekannten Terroristen auch Aufständische in Afghanistan und im Irak in die Analysen miteinbezogen.
Das Problem mit dem Pizzaboten
 
Bild: Steffen Mertin / Palantir

Eine "Verschwörungskarte": Das Netzwerk des südostasiatischen Terroristen Noordin Mohammed Top, der wegen der Anschläge auf Hotels in Jakarta vor kurzem verdächtigt wird.

Für Sageman waren die Resultate aber nicht befriedigend. Der Netzwerkansatz habe nicht wirklich geholfen, die "bad guys" zu fangen. Die Modelle kränkelten noch methodisch: Laut Sageman hat man zwar sehr gut statische Netzwerke abbilden können, dynamische Änderungen über die Zeit - etwa wenn ein Terrorist stirbt oder verhaftet und durch einen anderen ersetzt wird - habe man aber kaum erfassen können. Zudem konnte man bei wachsenden terroristischen Netzwerken keine Informationen ableiten: Je größer ein Netzwerk wurde, umso "lauter" drängten überflüssige Informationen in den Vordergrund, und die Wissenschaftler erkannten nichts mehr.

Auch wenn die Bilder der Netzwerkanalysten recht anschaulich und simpel aussehen, bei der Netzwerkanalyse geht es um mehr als Knoten, Verbindungslinien und Mathematik. Auch die Soziologie und die Inhalte der Kommunikation sind wichtig. Ohne diese Informationen landet man laut Krebs beim "Pizzabotenproblem": Regelmäßiger Kontakt wird mit signifikantem verwechselt.
Terroropfer auf Propagandavideos
In letzter Zeit widmen sich die Forscher daher der dynamischen Netzwerkanalyse. Laut Kathleen Carley vom Institut für Softwareentwicklung an der Carnegie Mellon Universität in Pittsburgh wird nicht mehr nur nach dem "wer" gefragt, sondern auch nach "wann", "was", "wo" und "warum". Dabei werden sogenannte Metanetzwerke untersucht; die Forscher stützen sich dazu nicht nur auf Netzwerktheorie, sondern auch auf Sozialpsychologie.

Die Informationen dafür liefern die Terroristen manchmal selbst. Carley hat 1.500 Videos von Anschlägen im Irak ausgewertet, die die Täter zu Propagandazwecken gedreht haben. Drei von vier US-Toten durch Attentate fanden sich Carley zufolge auf solchen Aufnahmen. Die Wissenschaftler erstellten aus den Videos ein großes Netzwerk, wandten Algorithmen an und gruppierten die Aufnahmen nach bestimmten Kriterien. Wenn man dann die Videos nochmal betrachtet, erhält man forensische Hinweise zu den Terrorzellen. Worauf genau geachtet wird, ist laut Carley jedoch geheim, damit die Terroristen den Forschern nicht in die Karten schauen können.
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"Science"-Schwerpunkt zu komplexen Systemen und Netzwerken
Die Zeitschrift "Science" widmet in ihrer letzten Ausgabe mehrere Artikel der Netzwerktheorie und ihren Anwendungen. Der Bogen spannt sich von der Suche nach Terroristen, über die Folgen des Klimawandels auf Ökosysteme, der Rolle von Organisation für nachhaltige Entwicklung, der Vorhersage ethnischer Konflikte bis zur Analyse von Finanzmärkten oder von Wellen an Emotionen, die Internetbenutzer ergreifen.
->   Alle Abstracts des Schwerpunktes
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Das Wissen der Unschuldigen
Während die Analyse sozialer Netzwerke bei der Suche nach Terroristen also in den letzten Jahren immer beliebter wurde, zweifeln laut "Science" jedoch manche Wissenschaftler an ihrem Nutzen. Die US-Armee jedenfalls setzt auf die Methode: Sie hat in Aberdeen in Maryland vor zwei Jahren ein wissenschaftliches Zentrum mit einem Budget von 162 Millionen Dollar eingerichtet, in dem Forscher des Militärs, Universitäten und Industrie kooperieren.

Die neuen Methoden sind aber auch schon unter schwere Kritik geraten. Es könnten sogar unethische Praktiken angewendet worden sein, wie ein weiterer Beitrag in "Science" zeigt ("Science", Bd. 325, S. 410). Er bezieht sich auf einen Kommentar des Offiziers und ehemaligen Mitarbeiters im U.S. State Department Lawrence Wilkerson im März dieses Jahres, in dem er das Vorgehen der Geheimdienste in Afghanistan und im Irak kritisiert.

Wilkerson ist überzeugt, dass das Militär und die Geheimdienste bewusst Unschuldige gefangen genommen hätten. Um durch Netzwerkanalysen Terroristen ausfindig zu machen, könnte jede Information von Menschen aus der Region hilfreich sein - ob die Betroffenen nun involviert sind oder nicht. Mit den Aussagen der Inhaftierten würden Computerprogramme gefüttert; durch die Kombination der Daten können Terroristen gefunden und ihre Wege nachverfolgt werden.
"Mosaik-Philosophie"
Die Grundlage für dieses Vorgehen nennt Wilkerson "Mosaik-Philosophie". Er bezieht sich laut "Science" auf Dokumente, zu denen er in den Jahren 2000 bis 2005 Zugang hatte, und schätzt, dass in Afghanistan und im Irak insgesamt 50.000 Menschen gefangen genommen wurden. Man müsse jede Information nutzen, um ausreichend viel über ein Dorf, eine Region oder eine Gruppe von Menschen zu erfahren. "Damit das funktioniert, müssen so viele Menschen wie möglich so lange wie möglich inhaftiert werden", schreibt Wilkerson in seinem Kommentar. Welche Wissenschaftler beteiligt und welche Computerprogramme verwendet wurden, wisse er aber nicht.

Um die Vorwürfe zu überprüfen, kontaktierte "Science" mehrere Netzwerkwissenschaftler. Sie bestätigten zwar die "Mosaik-Philosophie" - also dass zum Suchen der Informationen ein möglichst großes Netz gespannt werden müsse. Die Forscher zweifeln aber daran, dass diese Strategie auch in derart großem Maßstab in Afghanistan und im Irak angewandt wurde.

Die Netzwerkanalyse kann jedenfalls immer größere Gruppen untersuchen: Carley zufolge war vor zehn Jahren bei einigen hundert Menschen Schluss; heute lassen sich die Kontakte zwischen einigen zig Millionen Personen auswerten.

Mark Hammer, science.ORF.at, 27.7.09
->   Zentrum für Netzwerkanalyse der US-Armee
->   Kommentar von Lawrence Wilkerson
->   Internationales Netzwerk für Soziale Netzwerkanalyse
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Terror: Auch eine Frage der Statistik
->   Leben als Netzwerk: Die Komplexitäts-Pyramide
 
 
 
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01.01.2010