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Forum Alpbach: Vertrauen im Recht  
  Nur wer vertraut, kann mit Unsicherheit leben. Das Leben mit Unsicherheit ist unvermeidlich. Also müssen wir vertrauen, um zu leben. Das Recht bestimmt die Bedingungen für das Vertrauen, das notwendig ist, um komplexe Gesellschaften vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Allerdings besteht kein Grund, dem Recht mehr zu vertrauen als den Dingen, die es regelt, denn es kann sich jederzeit ändern. Mit diesem Zusammenhang zwischen Recht und Vertrauen beschäftigt sich der Rechtswissenschaftler Alexander Somek in einem Gastbeitrag. Er leitet beim Europäischen Forum Alpbach 2009 ein Seminar zum Thema.  
Zigaretten töten, Pistolen schützen
Bild: Alexander Somek
Alexander Somek
Von Alexander Somek

Wenn das Vertrauen in die Finanzmärkte erschüttert worden ist, dann greifen die Anleger nach Gold. Das ist normal. Aber es ist nicht selbstverständlich. Gold kann man nicht essen. Es taugt auch nicht zum Heizen.

Gold wird in dem Vertrauen darauf erworben, dass es seinen Wert behält und wiederverkauft werden kann. Also hat, wer sein Geld in Gold statt in Aktien steckt, noch immer keine Sicherheit. Man hat bloß anstelle einer komplexeren eine elementarere Form des Vertrauens gewählt.

Eine Person, die auf Gold setzt, beweist Systemvertrauen. Sie geht davon aus, dass soziale Tauschprozesse morgen so funktionieren werden wie heute. Was Gold angeht, ist dieses Vertrauen elementar. Es ist von der Zuversicht geprägt, dass sich, was auch immer passieren mag, wenigstens dieses Zahlungsmittel wird verwenden lassen. Es wird Transaktionen ge-ben und nicht bloß Raub. Ohne Vertrauen darauf gäbe es den Typ von Gesellschaft nicht, in dem wir leben.
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Seminar beim Europäischen Forum Alpbach
Alexander Somek leitet gemeinsam mit Nikolaus Forgo beim Europäischen Forum Alpbach das Seminar "Vertrauen im Recht" (20.- 26. 8 2009). science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.
->   Details zum Seminar
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Vertrauen in komplexen Wirtsschaftssystemen
Auch wer Aktien kauft, vertraut auf eine gesellschaftliche Leistung. Das Wissen, das Voraussagen über die Kursentwicklung erlaubt, ist das Produkt eines komplexen Wirtschaftssystems. Das Vertrauen auf dieses Wissen - etwa die Expertise von Vermögensberatern - ist ebenfalls Systemvertrauen.

Aber es ist komplexer als das Vertrauen auf Geld und Gold. Es ist bezogen auf die Fundiertheit spezialisierten Wissen und nicht bloß darauf, dass die elementaren Regeln des sozialen Austauschs morgen dieselben sein werden wie heute.
Recht ermöglicht Vertrauen
Vertrauen ist selbstbezüglich. Es ist von der Frage begleitet, warum es dem Misstrauen vorzuziehen ist.

Die Vertrauenswürdigkeit des Vertrauens entspringt unterschiedlichen Quellen. Eine davon ist das Recht. Es ermöglicht, an Erwartungen auch dann festzuhalten, wenn diese enttäuscht worden sind. Wenn es sonst nichts gibt, gibt es wenigstens den sogenannten Vertrauensschaden. Ein funktionierendes Privatrechtssystem und der Rechtsstaat ermöglichen elementares Systemvertrauen. Durch Verträge kann man sein, was man ist.
Elementares und komplexes Systemvertrauen
Hochschulabschlüsse oder Zulassungen zu Berufen sichern die Vertrauenswürdigkeit von Expertisen (sogar von Finanzberatern). Daran kann komplexeres Vertrauen anschließen.

Das Recht garantiert die Vertrauenswürdigkeit des Vertrauens. Seine eigene Vertrauenswürdigkeit ist, was das elementare Systemvertrauen angeht, abgeleitet vom Vertrauen auf den Staat. Dieser werde dafür sorgen, dass die Welt morgen noch so funktionieren wird wie heute.

Das komplexe Systemvertrauen ist anspruchsvoller. Eine bloße Legalitätsgarantie reicht nicht aus. Die gesetzliche Zulassung von genmanipulierten Lebensmitteln würde das Vertrauen in diese nicht steigern. Wir wollen der Expertise vertrauen können, die in die Festlegung rechtlich verbindlicher Standards eingeht. Und mancher Expertise wird misstraut.
Experten müssen die Weltsicht teilen
Expertise gilt uns als vertrauenswürdig, wenn wir meinen, dass die Experten unsere Sorgen, Ängste und Hoffnungen ernst nehmen. Damit wir dieser Auffassung sind, müssen sie unsere Weltsicht teilen. Sie müssen so sein wie wir.

Wir sind Wesen, die moralisch urteilen, indem sie über Risiken sprechen. Das Unmoralische gilt als riskant. Das Gute kann so schlimm nicht sein. Auch dem, worin wir unsere Libido investieren, sind wir bereit zu vertrauen. Bereitwillig wenden wir den Blick ab von möglichen schlechten Folgen. Autorasen ist geil. Also vertrauen wir darauf, dass nichts passiert. Meldungen über die Gesundheitsrisiken der Mobiltelefonverwendung gelten als Hysterie. Wir vertrauen ihnen nicht, weil wir aufs Handy nicht verzichten wollen.

Über Risikoeinschätzungen artikulierte Haltungen gegenüber Aktivitäten sind Teil unserer Kultur. Kulturell tradierte Vorurteile geben den Ausschlag darüber, ob Expertise überhaupt vernommen wird.
Risikoeinschätzung ist kulturell geprägt
In puritanisch geprägten Kulturen gilt der Gebrauch von Genussmitteln als verunreinigend. Deswegen bekommen Angehörige solcher Kulturen große Ohren, wenn es um Genussrisiken geht. Rauchen tötet in jeder Form, sei es aktiv oder passiv. Die Verunreinigung führt zum vorzeitigen Tod. Dieser Expertise sind Völker umso eher zu vertrauen geneigt, je mehr die Umlenkung oraler libidinöser Energien ins Essen kulturell approbiert ist.

Die USA sind ein Beispiel dafür. Sie bieten auch ein verwirrendes Zeugnis dafür, dass unter Angehörigen einer Kultur mit stark individualistischer, staatsskeptischer und konservativer Prägung die Zirkulation von Schusswaffen mehrheitlich als wenig riskant gilt. Pistolen sind cool. Sie sind männlich. Sie schützen vor den Übergriffen derer, die anders sind.

Studien, die zu belegen suchen, dass sich durch strengere Verkaufsbeschränkungen die Anzahl der Schusswaffenopfer reduzieren ließen, werden als verfehlt abgetan. Die Wurzeln der Gewalt werden anderswo vermutet, zumeist bei der bösen Staatsintervention. Man vertraut darauf, dass aus den Pistolen mehr Gutes als Schlechtes kommt.
Unvernunft als Teil der Normalität
Europäer neigen dazu, die Amerikaner deswegen für verrückt zu halten. Aber das ist ein Fehlschluss. Oft enthalten Kulturen Überzeugungen, die Außenstehende für unvernünftig halten, als integrale Bestandteile ihrer eigenen Normalität. Diese Überzeugungen sind der Ausdruck von Wertschätzungen.

Auf deren Grundlage neutralisieren Lebensformen gewisse Risiken und übertreiben andere. Sonst könnten sie ihre Werte nicht artikulieren. Jede Kultur entwickelt ihre eigenen Präferenzen bezüglich akzeptablen und inakzeptablen komplexen Systemvertrauens.
Risikokontroversen fordern die Demokratie
Kulturen sind freilich nichts Monolitisches. Risikokonflikte sind Konflikte zwischen Lebensformen. Sie werden in jeder Gesellschaft ausgetragen. Mit ihnen verbindet sich Statuskonkurrenz. Deren Ausgang entscheidet über das öffentliche Ansehen von Gruppen. Für Raucher sieht es im Westen nicht gut aus. Was Pistolen angeht, ist das Rennen noch offen.

Risikokontroversen fordern die Demokratie heraus. Denn gütlich beilegen lassen sich die diesbezüglichen Konflikte nur, wenn wir bereit sind, dem Vertrauen der anderen zu vertrauen und dem eigenen zu misstrauen. Das ist keine kleine Aufgabe. Denn am komplexen Systemvertrauen hängt oft unsere Identität.

[3.8.09]
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Über den Autor
Alexander Somek hat Rechtwissenschaften an der Universität Wien studiert, Habilitation im November 1992. Seit 2003 Professur an der University of Iowa, derzeit Charles E. Floete Chair in Law an der University Iowa, Col-lege of Law. Visiting Fellowship am Wissenschaftskolleg zu Berlin von 2007- 2008.
Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf Europäischem Recht, Staatsrecht und Rechtswissenschaften.
->   Alexander Somek
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01.01.2010