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Geheimnisvoller Saft
Die Kulturgeschichte der Harnschau
 
  Die Harnschau war jahrhundertelang das wichtigste Diagnoseverfahren der abendländischen Medizin. Nun hat der deutsche Medizinhistoriker Michael Stolberg ein Buch über die fast in Vergessenheit geratene Methode verfasst. Es trägt den Titel "Die Harnschau. Eine Kultur- und Alltagsgeschichte".  
Lange Tradition
Bild: Boehlau Verlag
Das Befundverfahren ist mindestens 2.500 Jahre alt. Schon in den Schriften des Hippokrates wird beschrieben, wie anhand von Urinproben Krankheiten erkannt werden können. Ende des Ersten Jahrtausends etablierte sich die Harnschau neuerlich in Europa.

Beeinflusst durch Übersetzungen arabischer Medizinschriften stärkte sich die Bedeutung des Urins gegenüber der Galle. Nun war der Harn die wichtigste Substanz und die Harnschau das bedeutendste Diagnoseverfahren.

Seine dominante Präsenz in der Medizin reichte bis ins 19. Jahrhundert. Für die Menschen von damals symbolisierte Urin eine Art Tor zur Innenwelt des menschlichen Körpers, ein Zugang zu den geheimnisvollen Vorgängen im Körper des Kranken.
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Das Buch "Die Harnschau. Eine Kultur- und Alltagsgeschichte" ist vor kurzem im Böhlau Verlag erschienen.
->   Das Buch im Böhlau Verlag
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Klinische Medizin löst Harnschau ab
Stolbergs Buch beschreibt die Praxis der Harnschau des ausgehenden Mittelalters bis hin zum 19. Jahrhundert. Der Bedeutungsschwund dieses Diagnoseverfahrens geht mit einem Paradigmenwechsel in der Medikalkultur einher, schreibt Stolberg.

Die klinische Medizin kam zu dieser Zeit auf. Stethoskop, Fieberthermometer und Blutdruckmessung, die die Veränderungen der Organe untersuchten, lösten die Harnschau mit der Zeit ab.
Harnglas war Symbol für Medizin
 
Bild: Boehlau Verlag

Franz Christoph Janneck (1703-1761): "The Medical Alchemist" (Quelle: Böhlau Verlag: Die Harnschau)

Die bis dahin herausragende Bedeutung der Harnschau hat auch viele Künstler und ihre Werke beeinflusst. Etliche frühzeitliche Genremalereien zeigen immer das gleiche Bild: Ärzte, die ein Glas mit der gelblichen Flüssigkeit begutachten.

Das Harnglas war das Symbol der medizinischen Zunft. Hätte es also die Ärzteserie "Emergency Room" schon damals gegeben, hätte, der mittelalterliche George Clooney nicht mit einem Stethoskop um den Hals, sondern mit dem Harnglas in der Hand Menschenleben gerettet.
Würmer deuteten auf Schwangerschaft hin
 
Bild: Boehlau Verlag

Spätmittelalterlicher Harnfarbenkreis (Quelle: Böhlau Verlag: Die Harnschau)

Mit der Harnschau meinte man sämtliche Vorgänge im Körper erkennen zu können. Dabei war die Harnfarbe wichtigstes Unterscheidungskriterium. Zwischen 19 verschiedenen Schattierungen wurde differenziert. Das Farbspektrum reichte von hell-wässrig, über rot bis hin zu schwarz.

Rötlichen Harn bei Frauen deutete etwa auf eine Schwangerschaft hin, so die damals gängige Erklärung. Andere Zeichen wurden jedoch je nach Harnschauer unterschiedlich interpretiert. Manche waren überzeugt, dass etwa eine Schwangerschaft nur festgestellt werden kann, indem man eine saubere Nadel eine Nacht lang in den Harn der Betroffenen taucht. Wenn am nächsten Morgen rote Flecken auf der Nadel sichtbar waren, erwartete die Frau ein Kind, so das Urteil der Harnschauer.

Andere empfahlen den Frauen, den Harn drei Tage lang stehen zu lassen und anschließend durch ein Leinentuch zu seihen. Sehe man danach in dem Tuch kleine Tierchen oder Würmer, sei die Frau schwanger.
Laien und Mediziner
 
Bild: Boehlau Verlag

Nach Daniel Teniers: Dörflicher Harnschauer ca. 1650 (Quelle: Böhlau Verlag: Die Harnschau)

Da es zu dieser Zeit wenige geschulte Mediziner gab, übernahmen die Laien oftmals ihre Aufgaben. Dazu gehörte auch die Harnschau. Menschen aus Pflegeberufen wie Bader, Barbiere oder Hebammen waren ebenfalls Anlaufstationen bei Krankheiten aller Art und erstellten Diagnosen. Allerdings gab es einen großen Unterschied zwischen der Harnschau der Ärzte und jener der Laien.

Die Harnschau durch einen Arzt war in der Regel ein sehr anspruchsvolles Verfahren. Manchmal mischten sie der Flüssigkeit Chemikalien bei, um bestimmte Schadstoffe zu erkennen, die ihrerseits wiederum auf Krankheiten hindeuteten. Sie empfahlen ihren Patienten Diäten und ähnliches.

Laien jedoch hatten oftmals einen anderen Blick auf den geheimnisvollen Saft. Manchmal glaubten sie im Urin Verwünschungen oder Verhexungen zu erkennen - etwa bei akuten Schmerzen wie dem sprichwörtlichen Hexenschuss oder beim Verlust der Manneskraft. Viele nicht-ärztliche Harnschauer rieten bei solchen Fällen zu Exorzismen.
Wiederentdeckung der Harnschau
Trotz der aus heutiger Sicht kuriosen Ausformungen der Harnschau, ist sie dennoch niemals gänzlich verschwunden. Heute entdecken viele Interessierte die alte Methode wieder. Man besinnt sich auf die alte Tradition, auch im Internet kursieren Angebote für Weiterbildungsseminare in Sachen Harnschau.

Es ist wohl die Suche der tieferen Wahrheit und einer Erklärung für die Vorgänge im Körper, die die Menschen faszinieren. Trotz oder vielleicht gerade wegen der modernen Schulmedizin erfährt die Harnschau im 21. Jahrhundert eine Renaissance.

Nina Brnada, science.ORF.at, 31.7.09
->   Harnschau, Wikipedia
 
 
 
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01.01.2010