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E-Forum Alpbach: Nationen und ihre Erinnerungskulturen  
  Die Erinnerungskulturforschung spielt in den letzten 30 Jahren eine immer wichtigere Rolle bei der Beschäftigung mit Nationen und ihrem nationalen Selbstverständnis. Im Wechselspiel zwischen individuellen Erinnerungen und dem kollektiven Gedächtnis entwickelt sich sozusagen eine neue Geschichtsschreibung.  
Mit Fragen über den Wert der Vergangenheit, deren Bedeutung für die gegenwärtige Gesellschaft und ihr kollektives Vertrauen in sich selbst beschäftigt sich der Amerikanist Udo Hebel in einem Gastbeitrag. Er leitet beim Europäischen Forum Alpbach 2009 ein Seminar.
Amerikanische Erinnerungskulturen

Udo Hebel
Von Udo Hebel

Der amerikanische Philosoph Ralph Waldo Emerson bezeichnete zur Mitte des 19. Jahrhunderts Erinnerung und Gedächtnis als primäre und grundlegende menschliche Fähigkeiten. 150 Jahre später nimmt die Erinnerungs- und Gedächtnisforschung eine prominente Position in den Geistes- und Kulturwissenschaften ein, die sich selbst Emerson in seinen kühnsten Visionen wohl kaum vorstellte.

Seit den 1990er Jahren kursieren Schlagwörter wie "memory boom" (Andreas Huyssen) und "memory mania" (Erika Doss) zur Charakterisierung der Konjunktur der Erinnerungskulturforschung. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts spekulieren Wissenschaftsmanager über die Transformation der Kulturwissenschaften in Gedächtniskultur-wissenschaften.

Selbst wenn Projektionen eines solchermaßen allumfassenden Wissenschaftsparadigmas überzogen anmuten mögen, so hat sich die Erinnerungskulturforschung dennoch im Gefolge der international weithin rezipierten Arbeiten von Maurice Halbwachs, Pierre Nora, Aleida Assmann und Jan Assmann zu einem interdisziplinär sehr produktiven Forschungsfeld entwickelt.
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Seminar beim Europäischen Forum Alpbach
Udo Hebel leitet gemeinsam mit Miles Orvell beim Europäischen Forum Alpbach das Seminar "Trust in America: Understanding the cultures and society of the United States" (20.- 26. 8 2009). science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.
->   Details zum Seminar
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Kulturelles Gedächtnis und individuelle Erinnerung
Im Zusammenhang neuerer, konstruktivistisch-funktionaler Konzeptionen von individueller Erinnerung und kulturellem Gedächtnis stehen dabei insbesondere die politischen Implikationen und sozialen Funktionen von Orten, Prozessen und Ritualen des kollektiven Erinnerns im Mittelpunkt der Forschungen von Wissenschaftlern unterschiedlichster fachwissenschaftlicher Disziplinen und theoretisch-methodischer Ansätze.

Die Gründe und Kontexte für das seit den späten 1980er Jahren anhaltende wissenschaftliche und politisch-öffentliche Interesse an Prozessen und Orten des Erinnerns sind so vielfältig wie die Felder der Erinnerungsforschung selbst.
Soziale und politische Veränderungen
So werden z.B. die sozialen Umwälzungen und politischen Veränderungen im Zuge der Globalisierung sowie die kulturelle und ethnische Pluralisierung von Migrationsgesellschaften als Auslöser für ein kollektives Verlangen nach Bewahrung und Bestätigung der eigenen Geschichte und Kultur gesehen.

Historische, politische und ideologische Wendepunkte wie z.B. das Ende des Kalten Kriegs und die Terroranschläge vom 11. September 2001 werden als Anlass zur Rückbesinnung auf nationale Geschichten, Traditionen und Identitäten unterschiedlichster Art betrachtet. Neue Technologien und elektronische Speichermedien intensivieren Diskussionen um den Erhalt konventioneller Archive und deren Dokumentationsformen und Bestände als Orte des kulturellen Gedächtnisses.
Gegen die imperialistische Erinnerungskonstruktion
Ethnische Emanzipationsbewegungen und koloniale bzw. postkoloniale Befreiungsbewegungen unterstützen die Entwicklung von gruppenspezifischen Erinnerungen und Gegenerinnerungen, welche die lange Zeit dominanten Geschichts- und Erinnerungskonstruktionen in vormals imperialen Gesellschaften und Nationen wie z.B. derjenigen in Großbritannien oder in multitethnischen Nationen wie den USA komplizieren.

Schließlich werden nationale Diskussionen und Kontroversen um das angemessene Gedenken z.B. an den Holocaust in Deutschland, die Résistance in Frankreich, den Vietnamkrieg in den USA, die Zeit der Apartheid in Südafrika oder den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki in Japan und den USA immer wieder als Beispiele für die Bedeutung und potentielle Sprengkraft von kollektiver Erinnerung und national(istisch)em Gedenken genannt.

Ungeachtet aller Unterschiede in Geschichte und gegenwärtigen Interessenslagen spiegeln sich in allen diesen Beispielen Fragen nach der kollektiven bzw. nationalen Verständigung über den Wert der Vergangenheit und deren Bedeutung für die jeweilige gegenwärtige Gesellschaft und deren kollektives Vertrauen in sich selbst.
Neue Identitätspolitik
Im interdisziplinären Feld der Amerikastudien haben sich die Ansätze der Erinnerungskulturforschung vor allem in den sogenannten New American Studies seit den frühen 1990er Jahren niedergeschlagen.

Vieldiskutierte Vorstellungen von Identitätspolitik und Geschichtsrevionismus, von "imaginierten Gemeinschaften" (Benedict Anderson) und "erfundenen Traditionen" (Hobsbawm/Ranger) prägen Interpretationen der multiethnischen Geschichte und pluralistischen Gesellschaft der USA. Politische und juristische Implikationen von kollektiver Erinnerung und nationalem Gedächtnis spielen dabei eine besondere Rolle.
Amerikanistische Forschungsschwerpunkte
Dabei gibt es zwei wichtige amerikanistische Forschungsthemen: Das erste beschäftigt sich mit den Bemühungen ethnischer Gruppen - besonders der Afroamerikaner und der Indianer - um eine angemessene Präsenz ihrer spezifischen Geschichten und Traditionen in der öffentlichen Wahrnehmung der USA, in der multikulturellen amerikanischen Literatur, in der visuellen bzw. virtuellen Kultur der postmodernen amerikanischen Medienlandschaft, in den Lehr- und Lernmaterialien von High Schools und Colleges sowie in den Dokumentationen und Besucherzentren der Nationalparks und historischen Gedenkstätten.

Beim zweiten geht es um die Konkurrenz um Visibilität und Deutungshoheit in den öffentlichen Räumen, Museen und Archiven der National Mall in Washington, DC, dem wichtigsten Ort der nationalen Erinnerung und Selbstvergewisserung der U.S.-amerikanischen Nation.
Oppositionelle Geschichte
Revisionistische und oppositionelle Akte der (Gegen-)Erinnerung z.B. an die Vernichtung der indianischen Kulturen Nordamerikas oder an die Sklaverei treten in komparativen Untersuchungen neben bekannte Orte der nationalen Erinnerung z.B. an die Amerikanische Revolution, den Bürgerkrieg, berühmte Präsidenten oder politische und militärische Ereignisse von nationaler Bedeutung: Diese bedingten in der Vergangenheit gerade in der nationalen Erinnerungskonstruktion oftmals eine Marginalisierung und Delegitimation von sogenannten Minderheiten und ethnischen Gruppen.

Die Forschungsprojekte der Regensburger American Studies widmen sich ferner der nahezu ungebremsten Kommerzialisierung der US-amerikanischen Erinnerungskultur sowie den zunehmend transnationalen Dimensionen von kollektiven 'amerikanischen' Erinnerungen im Zusammenhang von internationalen Migrationsprozessen und globalen Medienkulturen.

In allen Fällen kommt der kollektiven Erinnerung eine konstitutive und häufig auch transformative Funktion in der Konstruktion und eventuellen Revision von Gruppenidentitäten in der Gegenwart zu. Insofern ist Erinnerungskulturforschung gerade im Kontext der multiethnischen Geschichte und Gesellschaft der USA immer auch die Beschäftigung mit den Bedingungen und Möglichkeiten ihrer Kohärenzen und Diversitäten in Gegenwart und Zukunft.

[7.8.09]
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Über den Autor
Udo Hebel ist Inhaber des Lehrstuhls für Amerikanistik an der Universität Regensburg. Er beschäftigt sich unter anderem mit amerikanischen Erinnerungskulturen, der visuellen Kultur Amerikas und mit deutsch-amerikanischen Beziehungen.
->   Udo Hebel
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Weitere Beiträge zu den Seminaren des Europäischen Forum 2009:
->   E-Forum Alpbach: Vertrauen im Recht
->   Europäisches Forum Alpbach
 
 
 
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01.01.2010