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"Man muss Gelegenheit für offene Lösungen geben"  
  Das Bild des Denkers oder der Forscherin, die sich in ihr Studierzimmer zurückziehen und eine großartige Idee ausbrüten, ist veraltet. Denn was als innovativ oder gar genial gilt, hängt nicht zuletzt auch von gesellschaftlichen Übereinkünften ab. Im Interview erklärt Bildungspsychologin Christiane Spiel, warum Kreativität Arbeit ist, wie offenes Denken gefördert werden kann - und warum der Sputnikschock gut für die Kreativitätsforschung war.  

Christiane Spiel
Wie definieren Sie Kreativität?

Spiel: In den letzten Jahren haben sich zwei Ansätze durchgesetzt: Nach dem systemischen Ansatz wird Kreativität in einer Interaktion von drei Instanzen definiert: Dem Individuum, das ein kreatives Produkt schafft, der Domäne aus der dieses Produkt kommt - etwa Physik oder Kunst. Als Drittes spielt das Feld eine Rolle. Das sind jene Personen, die entscheiden was kreativ ist - bei der Kunst zum Beispiel Kritiker, Journalisten oder Künstler.

In der Wissenschaft sind das zum Beispiel Herausgeber und Herausgeberinnen von Fachzeitschriften, die bestimmen, was erscheint, oder Gutachter und Gutachterinnen von Projektanträgen. Damit sind wir beim Kernpunkt: Kreativität kann eigentlich nur über den Gegenstand, das Produkt, definiert werden.
Kreativität ist also eine Übereinkunft?

Das ist der zweite Ansatz, jener des sozialen Konstruktivismus. Ein schönes Beispiel ist die Kunst: Es schwankt stark, wann etwas akzeptiert ist. Wir kennen Biografien von Künstlern, die zu ihren Lebenszeiten nicht anerkannt waren und nach dem Tode sehr wohl. Damit sieht man, dass es eine soziale Übereinkunft und historisch beeinflusst ist.

Ursprünglich hat man Kreativität als Eigenschaft einer Person definiert - eine Person ist kreativ, eine andere nicht. Die Ansätze, Kreativität über Personeneigenschaften zu fördern oder zu messen, haben letztlich in der Geschichte der Kreativitätsforschung versagt.
Wie lässt sich Kreativität dann fördern?

Man kann die Kompetenz von Personen erhöhen, ihre Produkte in der Interaktion mit Feld und Domäne durchzusetzen. In der Wissenschaft kann man zum Beispiel die Regeln der Scientific Community erlernen, damit man Drittmittel bekommt, um zu forschen, oder welche Kriterien man berücksichtigen muss, um einen Artikel in einem Journal unterzubringen. Dabei kommt es jedoch auf die richtige Balance zwischen Marketing und Leistung an. Im Zentrum muss das Produkt stehen.

Es hat jedoch auch viel mit der Transparenz von Kriterien zu tun. Dadurch, dass der Zugang zur Domäne von definierten Experten kontrolliert wird, besteht die Gefahr für verkrustete Systeme oder Monopolisierungen. Gewisse Gruppen können Lobbying betreiben und der Zugang von kreativen Produkten kann verhindert werden.
Wie können Schulen und Universitäten Kreativität fördern?

Sie können Rahmenbedingungen schaffen und Personeneigenschaften fördern, die die Wahrscheinlichkeit von kreativen Produkten erhöhen - zum Beispiel in der Schule die Motivation durch einen interessensorientierten Unterricht fördern, durch einen problem- und handlungsorientierten Unterricht, in dem man authentische Probleme stellt, bei denen der Nutzen der Lernstoffs deutlich wird; sowie einen autonomieorientierter Unterricht, bei dem die Schüler und Schülerinnen Wahlmöglichkeiten haben; das heißt, dass es nicht nur eine richtige Lösung gibt, die der Lehrer oder die Lehrerin immer kennt.

Das fördert divergentes Denken. Wenn man nur in vorgegebenen Bahnen denkt, kann nicht Neues entstehen. Man muss Gelegenheit für offene Lösungen geben. Damit schafft man ein Klima, das die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sich Personen trauen, neue Wege zu gehen. Und man muss auch zeigen, dass das wertgeschätzt wird.
Womit beschäftigt sich Kreativitätsforschung derzeit?

Das ist schwer zu beantworten, weil sie nicht auf eine Disziplin beschränkt werden kann. Die Definition, was kreativ ist, kann nur aus dem jeweiligen Bereich, der jeweiligen Domäne kommen - zum Beispiel der Kunst oder der Wissenschaft; in der Wissenschaft wieder nur aus den einzelnen Disziplinen - zum Beispiel Physik oder Bauingenieurswesen. Zudem braucht es die Ökonomie. Sie befasst sich mit der Innovationsforschung, wie ein Produkt in den Markt kommt.

Interessant ist, ob es Unterschiede zwischen Disziplinen gibt, wie leicht oder schwer ein Produkt als kreativ anerkannt wird - ob sich zum Beispiel Physiker oder Ökonomen auf die zwei oder drei Kreativsten ihres Fachs und deren kreative Produkte schnell einigen, oder ob jeder eine andere Leistung als kreativ nennt. Das ist ein Indikator, wie klar die Regeln und wie schwer oder leicht kreative Produkte identifizierbar sind. Meine Vermutung ist, dass Disziplinen, wo man sich schnell einigt, in Gesellschaft und Wirtschaft erfolgreicher sind, weil das Kreative sichtbarer wird. Hier ist zweifellos Forschungsbedarf.
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Serie Alpbach
Von 27. bis 29. August finden im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach die Technologiegespräche statt, organisiert vom Austrian Institute of Technology (AIT) und der Ö1 Wissenschaftsredaktion. Das Thema heuer lautet "Vertrauen in der Krise - Zukunft gestalten". Dazu diskutieren Minister, Nobelpreisträger und internationale Experten.

In den Wochen davor erscheinen in science.ORF.at regelmäßig Interviews mit bei den Technologiegesprächen vortragenden oder moderierenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.
->   Alpbacher Technologiegespräche
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Behindert eine schnelle, berufsorientierte Ausbildung an den Universitäten die Kreativität?

Auch eine Universität kann ein Setting schaffen, dass die Wahrscheinlichkeit für kreative Produkte erhöht. Ein Studium mit klaren Regeln und wenig Wahlmöglichkeiten, das wenig auf Diskurs und Selbstverantwortlichkeit setzt, mit einem vorgegebenen Studienweg ohne Abzweigungen wird das nicht oder kaum schaffen.

Die Kreativitätsforschung hat sich früher oft die Biografien von kreativen Personen angesehen. Da hat sich gezeigt, dass kreative Personen andere Kreative angezogen haben - durch Rahmenbedingungen mit hohem Diskurs.

Inwieweit das Bologna-Konzept eher problemorientiertes und divergentes Denken fördert, wird man sehen. Von der Konzeption her wäre es gut gemeint, da die Kompetenzorientierung betont wird. Die Praxis zeigt aber, dass es mit der Umsetzung hapert und eher in eine starke Verschulung hineingeht.
Inwieweit braucht Kreativität interdisziplinäre Arbeit?

Einerseits behaupten viele Forscher, dass Innovationen fast nur mehr an den Schnittstellen zwischen Disziplinen möglich sind, weil innerhalb der Disziplinen zwar hohes Wissen vorhanden ist, aber das Spannende diese Schnittstellen sind. Interdisziplinarität als Zwang oder Selbstzweck kann es andererseits auch nicht sein.

Was sich aber durchsetzen wird, ist der Weggang vom disziplinorientierten Arbeiten und Forschen zum problemorientierten. Man wird nicht mehr sagen, das gehört den Chemikern oder den Physikern. Probleme werden nicht mehr von einer Disziplin alleine gelöst werden.
Gibt es historisch Phasen, in denen eine Gesellschaft kreativer oder weniger kreativ ist?

Das kann man schwer sagen. Als Beispiel kann man sich ansehen, wodurch Kreativitätsforschung ausgelöst wurde. Einerseits durch den Sputnikschock in den USA. Man war entsetzt, dass die Russen als erste einen Satelliten ins All geschossen haben. Fast gleichzeitig wurde die Förderung von divergentem Denken gefordert; das heißt, dass es nicht nur eine einzige Lösung von Problemen gibt, sondern dass man in verschiedene Richtungen denken soll, um adaptive Lösungen zu finden.

Beides hat einen Boom der Kreativitätsforschung ausgelöst. Das war die Phase, wo man Kreativitätstechniken wie Brain-Storming entworfen hat, wo man versucht hat, über die Erforschung von Biografien die Eigenschaften kreativer Menschen zu erfahren. Man hat Tests dazu entwickelt. Ich weiß aber nicht, ob Einstein bei so einem Test gut abgeschnitten hätte. Es war gut gemeint, aber eher naiv.
Braucht Kreativität Muße, die Zeit, über ein Problem in Ruhe nachzudenken, oder ist sie eher Arbeit?

Arbeit ist es auf jeden Fall. Es gab früher einen Zugang zur Kreativitätsforschung, der weitgehend aufgegeben wurde. Das war die Idee des klassischen Ablaufs eines kreativen Prozesses aus den 1960er-Jahren: Man hat zuerst das Problem, dann kommt die Inkubations- also die Grübelphase, dann die Illumination, also der geniale, kreative Gedanke, und dann die Umsetzungsphase.

Das ist von Disziplin zu Disziplin sehr unterschiedlich. Techniker auf der Suche nach Patenten haben vielleicht eher diese Illuminationsphase. Mikrobiologische Forscher müssen viele Versuchsreihen ansetzen, um etwas Neues zu finden. Das ist Arbeit, die auch viele Routineaspekte enthält. Man muss aber auch das Wissen haben, um in den Mustern neue Erkenntnisse zu entdecken. Es ist auf jeden Fall Arbeit und es ist nicht so, dass man den genialen Gedanken hat und dann entwickelt sich etwas. Auch Herman Nitsch sagt, dass Kreativität Arbeit ist.

Interview: Mark Hammer, science.ORF.at, 24.8.2009
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Zur Person
Die Mathematikerin, Historikerin und Psychologin Christiane Spiel leitet den Arbeitsbereich Bildungspsychologie und Evaluation an der Universität Wien. Bei den Technologiegesprächen beim Forum Alpbach diskutiert sie im Arbeitskreis zum Thema "Kreativität - Treibstoff der Wissensgesellschaft?"
->   Christiane Spiel
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Weitere Beiträge zu den Alpbacher Technologiegesprächen 2009:
->   Energie: "Häuser, die mit dem Netz reden"
->   E-Governance: "Bürger auf gleicher Augenhöhe mit dem Staat"
->   Lebensmittel: Das Individuelle der Allergien
->   Strukturbiologie: "Da hat die Natur Sicherheitsmaßnahmen eingebaut."
 
 
 
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01.01.2010