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Rote Khmer: Ambivalente Folgen des Tribunals
Heilung oder Wunden aufreißen?
 
  Seit Februar müssen die Führer der Roten Khmer vor dem Tribunal in Kambodscha Rede und Antwort stehen. Die grauenhaften Details, die dabei geschildert werden, werfen auch die Frage auf, ob das Tribunal die Gesellschaft heilen kann oder ob es weitverbreitete Traumata verschärft.  
"Kambodschaner haben große Hoffnungen, dass das Tribunal für Gerechtigkeit sorgen wird. Trotzdem haben sie große Angst, die Vergangenheit Revue passieren zu lassen", sagt Jeffrey Sonis, Autor einer entsprechenden Studie (JAMA. 1993;270(5):581) und Assistenzprofessor an der Universität von North Carolina.
Gerechtigkeit, die "schmerzvolle Erinnerungen" wachruft
Zum Zeitpunkt der Studie, also vor Prozessbeginn, glaubten 75 Prozent der Kambodschaner daran, dass das Tribunal gegen die Roten Khmer Gerechtigkeit und Aussöhnung bringen wird. Aber mehr als 87 Prozent der Menschen, die alt genug waren, sich an die Folterungen und Morde des Regimes zu erinnern, sagten, dass "schmerzvolle Erinnerungen" wiederaufleben werden.

Zwischen Dezember 2006 und August 2007 führten Sonis und internationale Kollegen, auch aus Kambodscha, eine landesweite Umfrage durch. Mehr als 1.000 Kambodschaner nahmen daran teil. 813 Personen waren 35 Jahre und älter. Sie waren mindestens drei Jahre alt, als das Morden begann und können sich noch daran erinnern. Der Rest der Befragten war zwischen 18 und 35 Jahren alt.
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Die Roten Khmer: Steinzeitkommunismus und Genozid
Im Jahr 1975, an dem Tag als sich amerikanische Truppen aus dem Vietnam zurückzogen, ließ Pol Pot die Hauptstadt Phnom Penh unter dem Vorwand evakuieren, ein Bombardement stünde bevor. In den darauffolgenden vier Jahren versuchte das Regime der "Khmer Rouge" einen Kommunismus steinzeitlicher Prägung einzuführen. Zwischen ein und zwei Millionen Menschen, ein Fünftel der damaligen Bevölkerung, starb an Hunger oder wurde in Arbeits- und Todeslagern gefoltert und hingerichtet. Traurige Beispiele dieser Massentötungen sind z. B. die "Killing Fields" oder das Lager Tuol Sleng (S-21) in der Hauptstadt.
->   Tuol Sleng
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->   Killing Fields (Wikipedia)
->   Rote Khmer (Wikipedia)
Posttraumatische Belastungsstörungen weit verbreitet
Mehr als 14 Prozent der befragten Personen über 35 und acht Prozent der Jüngeren litten unter Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS), die zu einer signifikanten Anzahl von geistigen und körperlichen Störungen führten. Die Anzahl aller Kambodschaner über 18, die vermutlich unter PTBS leiden (elf Prozent), ist damit mehr als fünfmal so hoch wie bei Amerikanern.

Innerhalb der älteren Gruppe gab die Hälfte an, während der Roten Khmer Ära dem Tode nahe gewesen zu sein, 31 Prozent berichteten von Folterungen. Befragte, die nicht glaubten, dass der Gerechtigkeit bis dato Genüge getan wurde und solche, die den Wunsch nach Rache verspürten, zeigten eher Symptome von PTBS. Trotzdem hatten die meisten Kambodschaner positive Erwartungen an das Tribunal.
"Ich würde sie gerne leiden sehen"
Ein interessantes Paradoxon tauchte während der Befragungen auf: Beinahe die Hälfte der Befragten dachte, die Tribunale gingen "gegen die Lehren Buddhas"; Kambodschaner bekennen sich beinahe ausschließlich zum Buddhismus. Befragt nach den Führern gaben trotzdem 84 Prozent an, mit der Aussage "Ich würde sie gerne leiden sehen" 'einverstanden' oder 'sehr einverstanden' zu sein. Dies ist insofern bemerkenswert, als Mitgefühl, liebende Güte und Gleichmut tragende Prinzipien des Buddhismus sind.

"Nach dieser Studie stellt sich eine große Frage: Können Bemühungen, Gerechtigkeit für Überlebende von Gewalt - sei sie aus der Masse oder Individuen entstanden - zu propagieren dabei helfen, die psychische Belastung erträglicher zu machen?", so Sonis. Und: "Wir wissen es bis jetzt einfach nicht." Um es herauszufinden, führt er mit Kollegen eine Langzeitstudie durch, welche die Auswirkungen des Tribunals auf die Kambodschaner messen soll.

Benedikt Baumgartner,science.ORF.at, 6.8.09
->   Jeffrey Sonis' Profil
->   Offizielle Homepage der UN zum Tribunal
 
 
 
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01.01.2010