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Popper und Merton wären Open-Access-Fans  
  Karl Popper hat den öffentlichen Charakter der wissenschaftlichen Methoden gefordert. Ihre Objektivität könne nicht individuell zustande kommen, sondern nur durch öffentliche Kontrolle und Kritik. Auch das Wissenschaftsethos von Robert K. Merton ist stark gemeinschaftlich orientiert. Für Papierjournale gilt das weniger, die heute harter Kern und Rückgrat der Wissenschaftskommunikation sind. Ihre Hauptfunktion besteht laut dem Wissenschaftsforscher Gerhard Fröhlich in der Kontrolle dieser Kommunikation.  
In einem Gastbeitrag plädiert er nicht zuletzt deshalb für digitales und kostenfreies Publizieren - Popper und Merton wären Open-Access-Fans gewesen, meint Fröhlich.
Die Wissenschaftstheorie fordert Open Access
Von Gerhard Fröhlich

Eugene Garfield tut es. Szientometriker tun es. Viele Ökonomen tun es. Nicht wenige tun es, aber sie wissen nicht einmal, dass sie es tun. Die Rede ist von "Open Access", d.h. vom Bereitstellen wissenschaftlicher Informationen, kosten- und barrierenfrei über das Internet. Warum machen dies Garfield, der Koerfinder des Impact Faktors für Journale (JIF), und die Szientometriker?

Open Access - das ist nicht der ideale Markt ökonomischer Theorien, sondern allenfalls Freiwilligenarbeit, ehrenamtliche Tätigkeit, Geschenkökonomie, also der Dritte Sektor der Selbstorganisation. Alles ins Netz stellen, vom kleinsten Beitrag bis zur gesamten Buchreihe, WWW und Mailinglisten offensiv zu nutzen, ist zwar bis heute die Praxis Garfields (und anderer Freunde der Szientometrie), war aber nicht seine Botschaft an das Wissenschaftlervolk.

Die hieß doch stets: Publizieren in (und nur in) Journalen, die von Garfields Kindern, den Zitationsdatenbanken SCI, SSCI bzw. AHCI erfasst sind. Warum also diese Abweichungen von den propagierten offiziösen Wegen? Vor meiner Antwort ein paar (scheinbare) Umwege in die Eiswüsten wissenschaftstheoretischer Abstraktionen.
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Bei diesem Text handelt es sich um die Kurzfassung eines gleichnamigen Artikels, der soeben in der Fachzeitschrift "Information - Wissenschaft & Praxis" erschienen und mit anderen online abrufbar ist. Gastherausgeber der Schwerpunktausgabe zum Thema Open Access ist Gerhard Fröhlich.
->   Information - Wissenschaft & Praxis (5 MB)
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Popper: Wissenschaft braucht freie Kommunikation
Sir Karl Poppers Forderung nach dem öffentlichen Charakter der wissenschaftlichen Methoden steht im Zusammenhang mit seiner Überzeugung, dass ein Einzelner keine Wissenschaft betreiben könne. Kommunikation zwischen Wissenschaftlern sei kein Zusatz, sondern unverzichtbarer Bestandteil aller wissenschaftlichen Methoden.

Die "Objektivität" der Wissenschaften, der wissenschaftlichen Methoden, ist nicht individuell zu bewerkstelligen, sondern sie kommt zustande durch öffentliche Kontrolle und Kritik, inklusive halbwegs gelungener Kommunikation (d.h. im Bemühen, "nicht aneinander vorbeizureden") - denn die potenziell falsifizierenden Befunde sollten natürlich die betreffende Theorie erreichen, und umgekehrt: "Die Wissenschaft, und insbesondere der wissenschaftliche Fortschritt, ist nicht das Ergebnis isolierter Leistungen, sondern der freien Konkurrenz der Gedanken."

"Wissenschaftliche Objektivität" beruhe "in gewissem Maße auf sozialen Institutionen", die Demokratie müsse die Gedankenfreiheit garantieren. Dabei stellt Popper auch die Frage nach "Zensur und Monopole der Medien": "Wieweit erzeugen Verlegermonopole eine Art von Zensur? Wieweit können Denker ihre Ideen frei veröffentlichen?"
Robert K. Mertons vier Postulate
Robert K. Merton stellte vier Postulate als Kern des Wissenschaftsethos auf: Universalismus, Kommunismus, Uneigennützigkeit und organisierter Skeptizismus. Der Universalismus fordert, dass die Position des wissenschaftlichen Senders gleichgültig sein müsse, seine Rasse, sein Geschlecht oder sein Status spielen keine Rolle für Wahrheitsansprüche.

Der Kommunismus "ist das zweite wesentliche Element des wissenschaftlichen Ethos. Die materiellen Ergebnisse der Wissenschaft sind ein Produkt sozialer Zusammenarbeit und werden der Gemeinschaft zugeschrieben. Sie bilden ein gemeinsames Erbe, auf das der Anspruch des einzelnen Produzenten erheblich eingeschränkt ist. Eigentumsrechte sind in der Wissenschaft aufgrund der wissenschaftlichen Ethik auf ein bloßes Minimum reduziert."

Das dritte Postulat des wissenschaftlichen Ethos, Uneigennützigkeit erwartet von den WissenschaftlerInnen keinen strikten Altruismus im engen Sinne. Aber Wissenschaftler dürfen nur der Erkenntnis verpflichtet sein, und dürfen nicht Methoden oder Ergebnisse für Karriere- oder Auftraggeberinteressen zurechtbiegen.

Organisierter Skeptizismus als viertes Postulat des Wissenschaftsethos sei "sowohl ein methodisches wie auch ein institutionelles Mandat": Es fordere die "unvoreingenommene Prüfung von Glaubenshaltungen und Überzeugungen aufgrund empirischer und logischer Kriterien".
Die Funktionen von Papierjournalen
Heute gelten referierte Papierjournale mit einem Journal-Impact-Faktor, zugewiesen von Thomson-Reuters nach nicht reproduzierbaren (!) Verfahren, als Rückgrat der Wissenschaftskommunikation. Die wichtigsten Funktionen dieser Journale sind:

- die Archivierung wissenschaftlicher Leistungen
- die Kontrolle der Qualität
- die Rationalisierung oft erbitterter Prioritätsstreitigkeiten
- die Unterstützung bei der Herausbildung und Durchsetzung neuer Fächer, Spezialdisziplinen und Paradigmen
- die Schaffung und Fortschreibung von Hierarchien.

Entscheidend für die Zukunft von Open Access, d.h. für die Akzeptanz in den wissenschaftlichen Communities ist m.E., ob sich diese Funktionen konventioneller wissenschaftlicher Papierjournale (vor allem die Hierarchiebildung) tatsächlich als unverzichtbar herausstellen und wenn ja, ob sich diese Funktionen des "toll access"- Modus durch andere digital unterstützte Open-Acccess-Kommunikationsformen ersetzen lassen.
Archivierung und Qualitätskontrolle
Die Funktionen der Archivierung und Qualitätskontrolle bzw. Kanonisierung können ohne weiteres von Datenbanken bzw. Webservern übernommen werden. Digitale wissenschaftliche Kommunikation, und selbstverständlich auch kostenfreier Open Access und Peer Review (oder erweiterte Verfahren wie Peer Monitoring), schließen einander ohnehin nicht aus - das behaupten nur einige Demagogen der Gegenseite.

Archivierung auf Papier sei sicherer, denn künftige Generationen könnten die Dateien nicht mehr lesen, heißt es. Doch auch Bibliotheken können zu Asche werden, Archive einstürzen. Der Nutzen von Archiven hängt vom Zugriffskomfort ab. Hier sind digitale Dokumente und Datensätze den Papierformen haushoch überlegen (sofern Manipulationsmöglichkeiten eingedämmt werden können).
Prioritätsstreitigkeiten und neue Fächer
Für die Regelung von Prioritätsstreitigkeiten scheinen Journale in der hektischen Aufmerksamkeitsökonomie der "Wissenschaft per Pressekonferenz" und einflussreicher Mailinglisten ohnehin bereits als viel zu langsam. Dies führt zwar auch zu Peinlichkeiten (man denke an die Cold Fusion-Affäre von 1989). Doch das Paradigma des Sports (schneller, höher, weiter) verbreitet sich leider auch in einer Wissenschaftswelt scheinbar unaufhaltsam, nicht zuletzt, weil davon immer stärker auch die massenmediale Aufmerksamkeit abhängt, an der wiederum Institutionen, Sponsoren, Förderer, Politiker interessiert sind.

Die Repräsentierung neuer Fächer bzw. Spezialdisziplinen kann sicherlich von Webservern übernommen werden.
Frische Brise in die Hierarchien
Bleibt die leidige Hierarchiefrage: Sind wirklich Verlags- und Journalhierarchien erforderlich zwecks "Reduktion von Komplexität" (Luhmann), um den überforderten WissenschaftlerInnen Orientierung zu bieten? So lautet jedenfalls das Hauptargument der Befürworter von Impact-Faktor-Hierarchien. Die bisher (re-)produzierten Hierarchien bzw. Rankings wissenschaftlicher Institutionen und Journale sind jedenfalls ganz oben ziemlich stabil, aufgrund der sattsam bekannten Matthäus-Effekte, welche die bereits kumulativ Bevorteilten weiterhin kumulativ bevorteilen.

Letztlich 'messen' die meisten Rankings von Institutionen bzw. Journalen die Erfolge der Vergangenheit, bei der Akkumulation sozialer, ökonomischer, politischer, symbolischer Kapitalbestände. Die Gründung neuer wissenschaftlicher Institutionen, Buchreihen, Journale war früher oft unvermeidlich, um verkrustete Hierarchien, die gegen wissenschaftliche Innovationen erfolgreich blockierten, mit Bypass-Strategien zu umgehen.

Bei fast allen sozialen, wissenschaftlichen und technischen Innovationen können die Karten (etwas) neu gemischt werden. Das ist keineswegs, wie manch Gegner des Open Access meint, das Ende unserer Kultur, das Ende unserer Wissenschaften, sondern eine Art frische Brise - bei der auch Verlage und Verlagsdienstleister keineswegs zugrunde gehen müssen.
Förderung von Vielsprachigkeit
Ein weiterer, von Befürwortern wie Gegnern von "Open Access" kaum bemerkter, sehr wichtiger Vorteil: Die Mehrsprachigkeit wissenschaftlicher Kommunikation wird eindeutig gefördert, genauer: die Sichtbarkeit von Publikationen, die nicht in englischer Sprache verfasst sind (So ist zurzeit die wichtigste Sprache bei E-LIS nicht englisch, sondern spanisch).

Das ist vor allem für Kultur- und Sozialwissenschaften mit ihren teilweise recht kultur- und sprachabhängigen Themen von Bedeutung. Doch auch in der Medizin und vielen anderen natur- und ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen werden die allgemein für wichtig und vermutlich globale Aufmerksamkeit erregenden Themen auf Englisch, die "bloß" regional wichtigen Forschungsfragen, etwa zu speziellen Krankheiten oder Krankheitserreger, in den Nationalsprachen publiziert.

Dadurch versickerte bislang große Erkenntnisschätze unbemerkt - kaum oder gar nicht registriert von den US-dominierten Datenbanken.
Popper und Merton wären Open-Access-Fans
Mein Resümee: Der Widerstand gegen das Neue hat noch jede wissenschaftliche Innovation behindert; warum sollte das gerade bei "Open Access" anders sein? Popper und Merton begründen und befürworten wohl eindeutig "Open Access". Es ist für Forschungskommunikation (Preprint-Server) wie Wissenschaftskommunikation (peer reviewed Journale, Archivierung referierter Postprints) problemlos geeignet, ermöglicht aber wesentlich besser als konventionelle Papierpublikationen die Aufdeckung von Plagiat und Täuschung und die Kennzeichnung als gefälscht überführter Publikationen.

Möchten wir tatsächlich optimale Bedingungen für wissenschaftliche Öffentlichkeit bzw. Kommunikation, möchten wir wirklich Kritik, offene pluralistische kognitive Konkurrenz, optimale Diffusion wissenschaftlicher Theorien, Modelle, Methoden, Befunde fördern?

Dann sollte die wissenschaftliche Kommunikation nicht durch reaktionäre Urheberrechtsbestimmungen und sonstigen künstlichen Barrieren behindert werden. Im Gegenteil: Es sollten die Potentiale digitaler Technologien zur Förderung von Öffentlichkeit, Kritik, Qualitätskontrolle durch Software wie Open Peer Commentary voll ausgeschöpft werden.

Wären Popper und Merton noch unter uns: Sie wären wohl Open-Access-Fans. Was sonst?

[10.8.09]
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Über den Autor
Gerhard Fröhlich ist a. Univ. Prof. am Institut für Philosophie und Wissenschaftstheorie der Johannes Kepler Universität Linz. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Kultur und Medientheorie, Wissenschaftsforschung (Evaluation, wissenschaftliches Fehlverhalten, innovation resistance). Open-Access-Datenbanken.
->   Gerhard Fröhlich (JKU)
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->   science.ORF.at-Archiv zum Thema Open Access
 
 
 
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01.01.2010