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"Ich frage mich, warum man Rankings machen soll"
Philosoph Rudolf Burger im Interview
 
  Neue Strukturen, neue Abschlüsse, Autonomie und Zulassungsverfahren: In den letzten Jahren haben Reformen viel an den Universitäten verändert. Welche Rolle die Unis heute für die Gesellschaft spielen, erzählt der Philosoph und ehemalige Rektor der Angewandten, Rudolf Burger, im Interview. Dabei kritisiert er mangelndes Selbstvertrauen an europäischen Universitäten, wenn es um Rankings geht, erklärt, warum er Ethikkommissionen für voraufklärerisch hält, und beklagt eine angloamerikanische Hegemonie durch die laufenden Unireformen.  

Rudolf Burger
Welche gesellschaftliche Rolle spielen Universitäten heute?

Burger: Man muss zwei Sache im Auge behalten: Es gibt wohl keine gesellschaftliche Einrichtung, die inhaltlich so dispers und heterogen ist und zugleich unter einem gemeinsamen legistischen Dach operiert, wie das System der Universitäten. Was hat das Studium des Maschinenbaus mit Altphilologie zu tun?

Und Universitäten waren nicht Bildungseinrichtungen, wie immer wieder in der öffentlichen Debatte beschworen wird. Die Bildung wurde institutionell mit der Matura abgeschlossen, dann kam eine Fachausbildung. Die Bildung fand in den Mittelschulen statt, wenn man darunter die Förderung von Urteilskraft versteht; dass Leute - und zwar alle, nicht nur eine Elite - in die Lage versetzt werden, sich ein eigenes Urteil über die Verhältnisse zu bilden, in denen sie leben.
Neben der Fachausbildung spielen Universitäten aber auch eine Rolle für gesellschaftliche Veränderungen - zum Beispiel 1968 oder heute im Iran?

Diese Rolle spielen sie weniger durch die Ausbildungsinhalte oder dadurch, dass kritisches Denken gefördert wird, sondern schlicht und einfach, weil sie eine Konzentration junger, intelligenter Menschen sind. Der Ort von Revolutionen ist in der Geschichte kaum jemals das flache Land gewesen. Es waren die Städte, dort wo Menschen konzentriert sind, und im höchsten Maße - nicht nur räumlich, sondern auch kommunikativ - sind sie das an Universitäten. Und da sind die Menschen jung. Alte Bevölkerung macht keinen Wirbel.
Geraten kritisches Denken und Urteilsvermögen ins Hintertreffen, wenn die Unis mehr Wert auf ökonomisch verwertbare Ausbildung legen?

Das glaube ich nicht. Das kann man nicht durch Bildungsinhalte steuern. Bildung fördert nicht unbedingt Urteilsvermögen und kritische Distanz. Natürlich brauchen sie Information und einen wachen Geist, aber vieles an Bildung stabilisiert eher Verhältnisse im Sinne einer selbstgefälligen Bildungsschicht. Ich bin dem Bildungsbegriff gegenüber gerade im deutschen Sprachraum sehr skeptisch.

Deutschland hatte vor 1933 wahrscheinlich die besten humanistischen Gymnasien und mit die besten Universitäten der Welt. Daraus abzuleiten, dass deshalb die Nazis gekommen sind, wäre ebenso falsch, wie zu glauben, dass man durch Bildungsreformen Radikalismen abstellen kann. Sowas wie Allgemeinbildung muss institutionell früher vermittelt werden, oder man muss es ein Leben lang selber machen.
Wie steht es um den Diskurs mit der Gesellschaft über neue Techniken? Der Präsident des deutschen Robert-Koch-Instituts etwa fordert frühzeitig den Dialog mit Ethikern und Kirchen über synthetische Biologie, die aus chemischen Molekülen biologische Strukturen erzeugt.

Ich frage mich, warum man Kirchen zum moralischen Richter macht. Die ganze Geschichte hindurch waren sie ausgesprochene Feinde des wissenschaftlichen Fortschritts und sind es heute noch. Ich weiß auch nicht wirklich, was ein Ethiker sein soll. Wieso sind Ethiker Fachleute oder bestimmte Leute Fachleute für Ethik? Ich halte das für eine ungeheure Anmaßung.

Ich halte nichts von Ethikkommissionen und schon gar nicht von kirchlichen Vertretern darin. Was notwendig ist, ist eine öffentliche Debatte unter Leuten mit Urteilsvermögen. Aber dazu ich brauche keine Ethiker. Diese haben weltanschauliche Hintergründe, die unthematisiert bleiben. Das ist im Übrigen eine ausgesprochen voraufklärerische Position. Nach Kant gibt es eigentlich keine Ethiker mehr. Ich sehe gegenaufklärerische Tendenzen.
Wo zum Beispiel?

Bei der Delegation des Denkens. Der Zentralpunkt der Aufklärung ist gewesen, dass man sich seines eigenen Verstandes ohne Anleitung anderer bedient. Heute haben sie Ethikkommissionen, die einem sagen, wo es lang geht. Ausgezeichnete Beamte im Finanzministerium müssen sich auf Ratingagenturen berufen, weil der gesellschaftliche Druck so ist. Gemeinsam Vordenken ja, aber sie sollten sich dann ein eigenes Urteil bilden. Man soll Verantwortung nicht delegieren an demokratisch nicht wirklich fassbare Institutionen.

Wie steht es um die Unabhängigkeit der Universitäten - etwa in Hinblick auf wirtschaftliche Interessen und die Verwertbarkeit von Forschungsergebnissen?

Durch das notwendige Einfordern sogenannter Drittmittel nimmt natürlich die Abhängigkeit von wirtschaftlichen Interessen zu. Man soll das aber nicht überschätzen. Die Abhängigkeit der Universitäten von staatlichen Zuwendungen war auch immer sehr stark. Sie waren nie, wie es Ideologen wollen, Orte des reinen, freien Denkens. Frei fühlt sich der, der nicht behindert wird. Und nicht behindert wurden die, die auf der ideologischen Linie gestanden sind.
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Serie Alpbach
Von 27. bis 29. August finden im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach die Technologiegespräche statt, organisiert vom Austrian Institute of Technology (AIT) und der Ö1 Wissenschaftsredaktion. Das Thema heuer lautet "Vertrauen in der Krise - Zukunft gestalten". Dazu diskutieren Minister, Nobelpreisträger und internationale Experten.

In den Wochen davor erscheinen in science.ORF.at regelmäßig Interviews mit bei den Technologiegesprächen vortragenden oder moderierenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.
->   Alpbacher Technologiegespräche
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Wie sehen sie den Bologna-Prozess und aktuelle Universitätsreformen?

Grundsätzlich halte ich die allgemeine Vereinheitlichung der Strukturen für sehr begrüßenswert und richtig. Was mir wenig gefällt, ist die damit verbundene Mode des Ratings und Rankings. Ich halte es für unerträglich, dass europäische Universitäten, die eine lange und eindrucksvolle Geschichte haben, sich sagen lassen, wer gut ist. Aber der Henker ist nur möglich, wenn das Opfer mitspielt. Das zeigt einen gravierenden Mangel an Selbstachtung europäischer, universitärer Institutionen.

Auch die zunehmende, angetriebene Durchsetzung von Englisch in den wissenschaftlichen Veröffentlichungen: Das ist einerseits notwendig, um wahr genommen zu werden, auf der anderen Seite ist es ein kultureller Unterwerfungsakt und eine angloamerikanische Hegemonie. Es ist eine sehr ambivalente Sache.
Wie lässt sich wissenschaftliche Qualität messen, wenn nicht durch Ratings und Rankings?

Bei den Ratings ist ein Qualitätskriterium, wie oft in "Science" oder "Nature" publiziert wird. Das sind hervorragende Zeitschriften, aber hier wird eine bestimmte Hegemonialstruktur verfestigt. Auf diese Weise hat eine deutsche, französische, italienische oder spanische Publikation gar nicht die Chance, international maßgebend zu werden.
Und die Qualität der Universitäten?

Ich frage mich, warum man Rankings machen soll. Die europäische Wissenschaft hat sich vor allem durch Selbstkritik entwickelt, durch Kritik unter Kollegen. Ich weiß schon, dass es viele Leerläufe an Universitäten gibt, dass viel schief läuft. Aber ob man das durch formalisierte, externe Peergruppen messen soll? Universitäten sind ja auch reaktive Systeme, die sich auf solche Beurteilungen einstellen.

Wenn man den pragmatisierten Professor abschafft und ihn einer formalen Beurteilung durch Studenten aussetzt, dann ist das durchaus begrüßenswert, weil er sich bewähren muss. Andererseits ist er nicht mehr wirklich konfliktfähig. Er kann keine Position vertreten, die gegen die Position der Studentenschaft ist. Das wird zunehmend eingeebnet. Das halt ich für eine bedenkliche Entwicklung.
Sie haben in sehr verschiedenen Positionen mit Universitäten zu tun gehabt. Wie ändert sich da die Sichtweise?

Das sind natürlich verschiedene Perspektiven, aber viel hat sich nicht verändert. Wenn man Institutionen, Organisationen, aber auch Menschen näher kommt, werden sie auch oft entzaubert.
Und beim Blick auf die Strukturen der Universitäten?

Mich hat immer erstaunt, dass Universitäten in Europa je nach Land und nationalen Traditionen sehr verschieden strukturiert sind, verschiedene Kulturen haben - auch innerhalb eines Landes - und dass trotzdem die Ergebnisse nicht sehr verschieden sind. Es gibt eine erstaunliche Unempfindlichkeit der Studienergebnisse von der organisatorischen Struktur.

Ich komme noch einmal zurück auf die angloamerikanische Hegemonie: Das angelsächsische System ist das normative Vorbild - schon bei der Terminologie: Bachelor, Master, PhD. Schauen Sie sich aber die ökonomische Entwicklung seit 1945 an: Heute ist England im Vergleich zu Deutschland praktisch entindustrialisiert. Das Manhattan-Projekt zum Beispiel haben deutsche und italienische Emigranten gemacht.

Wenn nachweisbar die universitäre Ausbildung einen so großen Einfluss auf die ökonomische Entwicklung hatte, dann bin ich gegenüber der Vorbildwirkung der englischen und amerikanischen Universitäten sehr skeptisch.
Muss man sich dann Sorgen um die ökonomische Entwicklung machen, wenn unsere Universitäten an das angloamerikanische System angepasst werden?

Möglicherweise ja; möglicherweise ist das Ganze ein Fehler.

Was wäre der Ausweg?

Wie in vielen solchen Fällen mehr Selbstbewusstsein, das gilt Ratings gegenüber ebenso, wie internationalen Vorbildern gegenüber. Und Urteilsvermögen, um noch einmal dieses Wort zu verwenden.

Interview: Mark Hammer, science.ORF.at, 26.8.2009
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Zur Person:
Rudolf Burger studierte Technische Physik, war Assistent am Institut für angewandte Physik und am Ludwig Boltzmann-Institut für Festkörperphysik und arbeitete am Batelle-Institut in Frankfurt am Main. In den 1960er-Jahren war er im Planungsstab des deutschen Bundesministeriums für Forschung und Technologie in Bonn, später Leiter der Abteilung für sozial- und geisteswissenschaftliche Forschung im österreichischen Wissenschaftsministerium, Professor für Philosophie an der Universität für angewandte Kunst und von 1995 bis 1999 deren Rektor. Bei den Technologiegesprächen beim Forum Alpbach diskutiert er im Workshop "Universitäten: Verantwortung für die Zukunft".
->   Rudolf Burger
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Weitere Beiträge zu den Alpbacher Technologiegesprächen 2009:
->   Kreativität: "Man muss Gelegenheit für offene Lösungen geben."
->   Energie: "Häuser, die mit dem Netz reden"
->   E-Governance: "Bürger auf gleicher Augenhöhe mit dem Staat"
->   Lebensmittel: Das Individuelle der Allergien
->   Strukturbiologie: "Da hat die Natur Sicherheitsmaßnahmen eingebaut."
 
 
 
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01.01.2010