News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
E-Forum Alpbach: Vertrauen als politische Basis  
  Vertrauen ist eine wesentliche Basis für das Funktionieren sozialer Systeme. Viele bezeichnen daher die derzeitige Wirtschaftskrise als ein "Krise des Vertrauens". "Vertrauen" könnte auch aus historischer Sicht ein wichtiger Begriff für die Analyse sozialer, wirtschaftlicher und politischer Strukturen sein. Damit beschäftigt sich Oliver Rathkolb in einem Gastbeitrag. Er leitet beim Europäischen Forum Alpbach 2009 ein Seminar zum Thema.  
Die "Zeitgeschichte" entdeckt die Vertrauens-Forschung

Oliver Rathkolb
Von Oliver Rathkolb

Seit den 1970er beginnt die Sozialwissenschaft das Thema "Vertrauen" als ein zentrales Element des Funktionierens von politischen Prozessen zu entdecken. Mit dem Ende des Kalten Kriegs werden die Forschungen zunehmend um die Auseinandersetzung mit der Etablierung demokratischer Institutionen und Systemabläufe in den ehemals kommunistischen Diktaturen erweitert.

Während in den früheren "westlichen" Demokratien zunehmend ein Rückgang des Vertrauen der Wähler in zentrale politische Institutionen, Parteien und Politiker zu konstatieren ist - nach einem Auf und Ab in den 1970er und 1980er Jahren -, stehen die Transformationsstaaten vor dem Problem, dass die Menschen grundsätzlich in der kommunistischen Zeit kaum Vertrauen aufgebaut haben. Dieses Misstrauen gegenüber dem politischen System und politischen Funktionären wird daher häufig fortgeschrieben.

Jüngste Meinungsumfragen belegen auch die Tatsache, dass ein direkter Zusammenhang zwischen dem Vertrauen in demokratische Entscheidungsprozesse sowie die repräsentative Demokratie und den sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen besteht.
...
Seminar beim Europäischen Forum Alpbach
Oliver Rathkolb leitet gemeinsam mit Geoffrey Hosking beim Europäischen Forum Alpbach das Seminar "The historic foundations of trust" (20.- 26. 8 2009). science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.
->   Details zum Seminar
...
Vertrauen muss erneuert werden
Die Zeitgeschichtsforschung kann durchaus einen Beitrag zur historischen Analyse des Aufbaus von Vertrauen liefern. So gehört etwa die Entwicklung und Vertiefung der Deutsch-Französischen Kooperation zu den Wundern der Nachkriegszeit - vor dem Hintergrund einer aggressiven nationalistischen Feindschaft zwischen den beiden Gesellschaften und den jeweiligen Politikeliten im 19. und 20. Jahrhundert.

Gerade an diesem Beispiel lassen sich die notwendigen Voraussetzungen zwischen dem Abbau von Misstrauen und tief sitzenden Vorurteilen rekonstruieren - angefangen von der Bedeutung eines Elitenkonsenses, umfassenden und permanenten Bildungskooperationen und Schüler- und Studentenaustausch bis hin zur konkreten realpolitischen Kooperation in Sicherheits- und Wirtschaftsfragen aber auch außenpolitischen Zielsetzungen.

Wesentlich in diesem Zusammenhang ist das Faktum, dass Vertrauen ständig erneuert werden muss und vor allem durch laufenden Informationsaustausch auf politischer, bürokratischer und zivilgesellschaftlicher Ebene immer wieder neu erworben und vertieft werden muss.
Deutsch-französische Kooperation
Im Falle Deutschlands und Frankreichs ist inzwischen die Vertrauensbasis so tief geworden, dass es sogar gelungen ist, ein gemeinsames Schulbuch herauszubringen, fast einzigartig in der Welt, da es tatsächlich für den Unterricht der achten bis zehnten Schulstufen in beiden Ländern offiziell zugelassen ist und Verwendung findet.

Bemerkenswert hierbei ist überdies der zivilgesellschaftliche Kontext, dass die Idee 2003 von einem deutsch-französischen Jugendparlament, das vom Deutsch-Französischen Jugendwerk (DFJW) gegründet wurde, ausgegangen ist. 2006 erschien der erste Band, "Histoire/Geschichte - Europa und die Welt seit 1945", 2009/2010 soll "Von der Antike bis zu Napoleon folgen.
Kritische Auseinandersetzung als Basis
Ein zweites zeitgeschichtliches Beispiel eignet sich ebenfalls, zu dokumentieren, wie rasch - binnen 2 Generationen - selbst nach einer totalen Konfliktsituation wie dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust eine Vertrauensbasis aufgebaut werden kann.

So hat der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland Konrad Adenauer mit einer umfassenden Entschädigungs- und Kompensationspolitik der Opfer des deutschen Aggressionskrieges und des Holocaust eine selbstkritische Auseinandersetzung der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland initiiert, die heute international als zentrales positives Modell zum Vertrauensaufbau angesehen wird.

Diese hohen finanziellen Aufwendungen waren aber nur vor dem Hintergrund des beginnenden Wirtschaftsbooms und der Westintegration sowie der Angst vor einer Eingliederung in den kommunistischen Ostblock möglich und gesellschaftlich durchsetzbar.
Deutschland als Modell
Der US-Amerikanische Judaist James E. Young geht sogar so weit, zu behaupten, dass das Holocaust-Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin als topographischer Schwerpunkt der neuen Hauptstadt des demokratischen und vereinten Deutschlands, ein Modell für andere "Nationen liefere, die sich mit ihren eigenen Gedächtnis-Dämonen herumschlagen" (er verweist darauf, dass die USA viele "Probleme" mit dem eigenen kollektiven Gedächtnis haben - nicht nur im Zusammenhang mit Vietnam - zuletzt u.a. im Zusammenhang mit dem gescheiterten Versuch, die US-Atombombenabwürfe in Japan im "Smithonian Institute" zu historisieren).
Wiedergutmachung und verhandelte Geschichte
Der US-Kulturwissenschaftler und Historiker Elazar Barkan entwickelte dazu in seinem Buch "The Guilt of Nations" im Jahre 2000 eine interessante These: Restitution und Kompensation von Vermögensentzug im Zuge von Menschenrechtsverletzungen sind für Barkan in erster Linie "verhandelte Geschichte", in der verschiedene durch ein "historisches Verbrechen" verknüpfte Gruppen durch die Suche nach eine gemeinsamen historischen Leitmotiv den Konflikt bewältigen und damit zugleich ein Stück weit ihre Identität verändern können.

Auch andere wie etwa die Autoren des Buches "Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust", Daniel Levy und Natan Sznaider meinen, dass die "Entschädigungs- und Restitutionspolitik" nach dem Holocaust in der Bundesrepublik Deutschland und Teilen Westeuropas heute zunehmend ein "Modell" für andere Opfergruppen wird.
Übergeordneter politischer Grundkonsens
Gleichzeitig wird aber deutlich, dass es eines übergeordneten politischen Konsenses aller zentralen ehemaligen Konfliktparteien bedarf, um diese Form des Vertrauensaufbaus durch historische kritische Selbstreflexion und Entschädigung für materielles Unrecht zuzulassen. Diesen Grundkonsens hat die westeuropäische Nachkriegsgesellschaft - stark beeinflusst von den USA - als wichtige Voraussetzung der Westintegration im Kalten Krieg rasch gefunden.

Diesen Grundkonsens gibt es im Vergleich dazu im Israelisch-Palästinensischen Konflikt jedoch derzeit nicht. Nur in den ersten Jahren nach dem Oslo-Agreement 1993 - und dies in der aktuellen politisch desaströsen Situation zu zitieren, erscheint utopistisch zu sein - ist dieses neue Menschenrechtsbewusstsein zur Schaffung von Vertrauen durch "Reconciliation" aufgetaucht. Zwar hatte es bereits nach 1949 Entschädigungsverhandlungen für 1948 verlorenes Vermögen und Grundbesitz in Israel mit den arabischen Nachbarstaaten gegeben, aber erst 1999 haben palästinensische Experten genau die Wechselbeziehungen zwischen Entschädigung, Restitution und dem "Right to return" für die Flüchtlinge studiert, und israelische Historiker wie Ronald Zweig publiziert.
Entwicklungen durch Vertrauen fördern
Vertrauensbildende Maßnahmen sind, wie die skizzierten zeitgeschichtlichen Beispiele zeigen, unter bestimmten Voraussetzungen durchaus geeignet, demokratische Transformationsentwicklungen zu unterstützen, doch bedarf es eines übergeordneten Konfliktverregelungswillens und eines weiterreichenden - häufig global angelegten - politischen Zieles.

[12.8.09]
...
Über den Autor
Oliver Rathkolb ist Univ.-Prof. am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und Institutsvorstand und ehemaliger Leiter des neu gegründeten Ludwig Boltzmann-Instituts für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit 2005-2008 und 1985 - 2004 wissenschaftlicher Leiter der Stiftung Bruno Kreisky Archiv.
->   Oliver Rathkolb
...
Weitere Beiträge zum E-Forum Alpbach 2009:
->   E-Forum Alpbach: Vertrauen in der Medizin
->   E-Forum Alpbach: Nationen und ihre Erinnerungskulturen
->   E-Forum Alpbach: Vertrauen im Recht
Weitere Beiträge zu den Alpbacher Technologiegesprächen 2009:
->   "Häuser, die mit dem Netz reden"
->   E-Governance: "Bürger auf gleicher Augenhöhe mit dem Staat"
->   Das Individuelle der Allergien
->   Strukturbiologie: "Da hat die Natur Sicherheitsmaßnahmen eingebaut"
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010