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"Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser"
E-Forum Alpbach
 
  Zuviel Vertrauen in seine Mitmenschen ist nicht gut, wie zahlreiche Beispiele aus Politik, Wirtschaft und Privatleben beweisen. Doch chronisches Misstrauen ist krankhaft. Wenn nur Misstrauen herrschen würde, liefe bald gar nichts mehr.  
Auf die Suche nach dem rechten Mittelmaß, macht sich der Sprachwissenschaftler Manfred Kienpointner in einem Gastbeitrag. Er leitet beim Europäischen Forum Alpbach 2009 ein Seminar zu dem Thema. Seine Synthese: "Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser."
Paradoxien des Vertrauens
Von Manfred Kienpointner

These: Man kann niemandem vertrauen ...

"Lupus est homo homini" ("Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen") lässt schon der römische Komödiendichter Titus Maccius Plautus einen Kaufmann in seinem Stück "Asinaria" sagen. Dieser Kaufmann fährt sinngemäß fort, dass man niemandem trauen kann, den man nicht kennt.
... weder in der Politik ...
Und in der Tat: Es gibt viele gute Gründe für Misstrauen. So z.B. viele Verhaltensweisen, die in der Spitzenpolitik verbreitet sind. Unzählige gebrochene Wahlversprechen, empörender Machtmissbrauch, Korruption tragen zum zunehmenden Vertrauensschwund in der Bevölkerung bei.

Nach einer Gallup-Umfrage aus dem Jahr 2006 hielten 43 Prozent der ca. 55.000 Befragten in 60 Ländern PolitikerInnen für unehrlich. Ein noch düstereres Bild vermittelt die aktuelle Umfrage des Magazins Reader's Digest zum Vertrauen, das in Berufe gesetzt wird.

Ende 2008 wurden über 23.000 Personen in 16 Ländern Europas zu diesem Thema befragt. Das Ergebnis: Im europäischen Durchschnitt vertrauen nur sieben Prozent den PolitikerInnen, 89 Prozent hegen tiefes Misstrauen gegen sie.
... noch in der Wirtschaft ...
Betrug in der Wirtschaft ist ein weiteres menschliches Verhalten, das gerechtfertigtes Misstrauen erzeugt. So legen z.B. neuartige Betrugstechniken in der internationalen Wirtschaftskriminalität wie die berüchtigten "Nigeria-Briefe" generelles Misstrauen nahe.

Diese Briefe werden meist von Nigeria aus millionenfach per E-Mail in alle Welt verschickt. Die arglosen EmpfängerInnen sind mit raffinierten Appellen an ihre Habgier, ihr Mitleid oder ihre religiösen Gefühle insgesamt um Summen in der Größenordnung von hunderten Millionen Dollar geprellt worden.
... noch im Privatleben
Bild: Manfred Kienpointner
Manfred Kienpointner
Ganz anders als der Kaufmann in Plautus' "Asinaria" kann man sich darüber hinaus mit Recht fragen, ob man denen trauen kann, die man am besten kennt. Dies gilt z.B. für den Ehepartner oder die Ehepartnerin.

Die bereits einige Jahre zurückliegenden Skandale um die zahlreichen Seitensprünge des ehemaligen demokratischen U.S.-Präsidenten Bill Clinton oder der erst Ende Juni 2009 aufgeflogene Ehebruch des republikanischen U.S.-Gouverneurs Mark Sanford belegen dies illustrativ.

Auch die Statistiken zu den immens hohen Scheidungsraten scheinen das anfänglich totale gegenseitige Vertrauen jungverliebter Paare Lügen zu strafen. So lag nach der Statistik Austria die Gesamtscheidungsrate in Österreich im Jahr 2008 bei rund 48 Prozent.

Dass Vertrauensmissbrauch im Bereich intimer Beziehungen im wahrsten Sinne tödlich sein kann, zeigen die hohen AIDS-Infektionsraten im östlichen und südlichen Afrika, wo fremdgehende Männer die Krankheit auch im Wissen um die Konsequenzen durch sexuelle Kontakte weiterverbreiten.
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Seminar beim Europäischen Forum Alpbach
Manfred Kienpointner leitet gemeinsam mit Daniel Weiss beim Europäischen Forum Alpbach das Seminar "Vertrauensbildung in der Kommunikation - Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser!" (20.- 26. 8 2009). science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.
->   Details zum Seminar
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Verrat, wohin man blickt
Ähnliches lehrt ein Blick in die Geschichte der Menschheit. Er zeigt nicht nur, dass Feinden gegenüber das Lügen und das Brechen von Verträgen zur Tagesordnung gehörten, auch nahe stehende Vertraute und Verbündete konnten Vertrauen missbrauchen.

Dies zeigen bekannte Verräterfiguren der Menschheitsgeschichte wie der Grieche Ephialtes von Trachis, der 480 v. Chr. seine griechischen Landsleute bei den Thermopylen der Übermacht der Perser zum Massaker preisgab, oder der Römer Marcus Iunius Brutus, der 44 v. Chr. seinen großzügigen politischen Gönner Caesar ermordete, oder der Nazi-Kollaborateur Vidkun Quisling, norwegischer Ministerpräsident von 1942-1945, dessen Name in mehreren Sprachen sprichwörtlich für "Verräter" geworden ist.

Als Fazit lässt sich somit der zwar sinngemäß, aber nicht wörtlich von Lenin stammende Satz "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser" kaum abweisen.
Antithese: Man muss grundsätzlich allen vertrauen
Nach den obigen Ausführungen scheint es zunächst geradezu absurd, davon auszugehen, dass man "grundsätzlich allen vertrauen muss". Eher könnte man meinen, dass man "grundsätzlich allen misstrauen muss". Ständiges und generelles Misstrauen ist jedoch ein Ding der Unmöglichkeit.

Das Leben in der modernen, stark von Technologie und Wissenschaft bestimmten arbeitsteiligen Gesellschaft macht es unverzichtbar, auf das Urteil verschiedenster Fachleute zumindest grundsätzlich zu vertrauen. Denn wir können unmöglich die Richtigkeit all ihrer Aussagen selbst überprüfen. Dies gilt auch für die Fachleute selbst.
Vertrauen als Basis der Alltagskommunikation
Außerdem sind elementare Maximen der alltäglichen Kommunikation wie die Maxime der Aufrichtigkeit nicht nur moralische Prinzipien, sondern auch real wirksame Mechanismen unserer Alltagskonversationen.

Denn Lüge und Täuschung brauchen paradoxerweise, um erfolgreich sein zu können, ein grundsätzliches und in vielen Fällen empirisch beobachtbares Befolgen der Aufrichtigkeitsmaxime. Lügen sitzen sozusagen parasitär auf normalerweise vorausgesetztem aufrichtigem Kommunizieren auf.

Vertrauensgrundsatz im Straßenverkehr
Ein weiteres Beispiel, dass Vertrauen im alltäglichen Umgang mit anderen Menschen nicht nur ein normatives Ideal, sondern auch eine praktisch unverzichtbare Verhaltensregel darstellt, ist der Vertrauensgrundsatz im Straßenverkehr. Dieser Grundsatz ist in Österreich auch Teil der Straßenverkehrsordnung. Sein Gegenteil, eine Art "Misstrauensgrundsatz", würde den Straßenverkehr völlig lahmlegen.
Generelles Misstrauen ist nicht praktizierbar
Umgekehrt ruft ein radikales Abgehen von einem grundsätzlichen gegenseitigen Vertrauen eine ökonomisch und politisch fast nicht praktikable, jedenfalls ethisch bedenkliche Flut von dadurch notwendig werdenden Kontrollmaßnahmen hervor.

Auf privater Ebene reicht das von überraschenden Anrufen und unangemeldeten Besuchen über das Wühlen in Taschen und Schubladen bis zum kostspieligen Einsatz von PrivatdetektivInnen.

Im ökonomischen und politischen Bereich reicht es von ständigem Überprüfen der Arbeitszeit und Leistung von MitarbeiterInnen über das Bespitzeln vermeintlich verdächtiger sozialer Gruppen bis zur Paranoia von Diktatoren. Nicht zuletzt stellt sich für alle Kontrollfreaks aber auch die Frage: Wer kontrolliert die Kontrolleure?
Chronisches Misstrauen ist eine Krankheit
Misstrauen kann schon deswegen nicht als normale Grundhaltung generalisiert werden, weil chronisches Misstrauen eine pathologische Erscheinung ist. Der Extremfall eines chronisch misstrauischen Menschen hat Züge von Wahnsinn (Paranoia in Form von Verfolgungswahn oder Eifersuchtswahn).

Krankhaftes Misstrauen kann auch kollektiv, z.B. bei politisch oder religiös fanatisierten Gruppen auftreten und geht dann oft mit Verschwörungstheorien einher. Man könnte also mit Johann Nestroy sagen: "Zuviel Vertrauen ist häufig eine Dummheit, zuviel Misstrauen ist immer ein Unglück".
Synthese: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser
Die bisherigen Ausführungen führen zu dem paradoxen Resultat, dass sowohl generalisiertes Vertrauen als auch generalisiertes Misstrauen gravierende negative Folgen haben. Es ergibt sich natürlich die nahe liegende Möglichkeit, einen Mittelweg vorzuschlagen. Man könnte versuchen, jeweils fall- und situationsabhängig rational gerechtfertigtes Vertrauen bzw. rational legitimes Misstrauen zu entwickeln.
Vorgehen im konkreten Einzelfall?
Für einen solchen nahe liegenden Mittelweg stellt sich jedoch die schwierige Frage: Was bringt uns dazu, in einem Einzelfall/in einer bestimmten Situation jemandem zu vertrauen, obwohl wir uns damit gewissen Risiken aussetzen und entsprechende negative Folgen freiwillig in Kauf nehmen?

Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort. Es empfiehlt sich daher, bei aller Berechtigung von Versuchen, Lösungen des Problems von Vertrauen bzw. Misstrauen mit rationalen Überlegungen anzureichern, auch emotionale Aspekte nicht ganz außer Acht zu lassen.

Vertrauen und Misstrauen sind nämlich immer teilweise auch emotional bestimmte Zustände. Oder mit den Worten von Khalil Gibran: "Vertrauen ist eine Oase im Herzen, die von der Karawane des Denkens nie erreicht wird."
Im Zweifelsfall: Grundsätzliche Präferenz für Vertrauen
Was ist dann aber mit Grenzfällen, in denen weder rationale noch emotionale bzw. instinktive Überlegungen eine klare Entscheidung ermöglichen? In solchen Fällen ist es wohl am besten, einer Maxime zu folgen, die "eine grundsätzliche Präferenz für Vertrauen" empfiehlt.

Dies scheint auf den ersten Blick blauäugig und naiv zu sein, ist aber in manchen Fällen unverzichtbar. Nur so können nämlich oft privat oder politisch festgefahrene Fronten wieder in eine konstruktive Bahn gelenkt werden.

Man kann in diesem Zusammenhang die aktuellen Bemühungen von U.S.-Präsident Barack Obama nennen, auch mit politischen Gegnern innerhalb der U.S.A. zu kooperieren sowie mit einzelnen "feindlichen" Staaten wie dem Iran wieder ins Gespräch zu kommen.
Vertrauensvorschuss: Risiko mit Aussicht auf Erfolg
Vertrauensvolles Handeln kann die Möglichkeit des Scheiterns nie ausschließen, aber misstrauisches Handeln kann die Möglichkeit des Gelingens von vornherein blockieren. Im Erfolgsfall können vertrauensbildende Strategien entsprechendes Vertrauen erzeugen.

Dies hat wiederum unsere Welt bitter nötig, um nicht in einer Spirale von Misstrauen und "Gegen-Misstrauen", von (atomarer) Rüstung und Gegenrüstung zugrunde zu gehen. In Abänderung des Lenin zugeschriebenen Zitats könnte man daher resümieren: "Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser".

[19.8.09]
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Über den Autor
Manfred Kienpointner ist Univ.Prof. für Allgemeine und Angewandte Sprachwissenschaft an der Universität Innsbruck. Seine Hauptforschungsgebiete sind Rhetorik und Argumentation, Kontrastive Linguistik, Höflichkeitsforschung und Strukturelle Semantik.
->   Manfred Kienpointner
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Weitere Beiträge zu den Seminaren des E-Forum Alpbach 2009:
->   Florian Bieber: Vertrauen als Kriegsopfer
->   Wolfgang Dietrich: Entwicklungspolitik heute
->   Oliver Rathkolb:Vertrauen als politische Basis
->   Christoph Zielinski: Vertrauen in der Medizin
->   Udo Hebel: Nationen und ihre Erinnerungskulturen
->   Alexander Somek: Vertrauen im Recht
Beiträge zu den Technologiegesprächen des Forum Alpbach 2009:
->   "Häuser, die mit dem Netz reden"
->   "Bürger auf gleicher Augenhöhe mit dem Staat"
->   Das Individuelle der Allergien
->   "Da hat die Natur Sicherheitsmaßnahmen eingebaut"
 
 
 
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01.01.2010