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"Schmerzfreies" Fleisch - eine ethische Alternative?  
  Hunderte Schweine haben ihr Leben lang nichts anderes gesehen als Ställe und unzählige Artgenossen, mit denen sie sie teilen mussten. Ein US-Ethiker will dem Leiden von Tieren in der industriellen Landwirtschaft ein Ende bereiten. Er fordert, dass ihnen mit Hilfe der Gentechnologie das Schmerzempfinden genommen wird.  
Kein Fleisch mehr zu essen wäre eine Möglichkeit, etwas gegen das Leid zu unternehmen. Der Großteil der Menschen entscheidet sich aber dagegen: Laut Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) werden im Jahr 2009 knapp 286 Millionen Tonnen Fleisch produziert - Tendenz steigend.

Adam Shriver, Philosoph der Washington University in St. Louis, Missouri, sorgt jetzt mit einem provokanten Essay für Aufregung: Seiner Meinung nach wäre es sinnvoll, ganze Viehbestände gentechnologisch dahingehend zu verändern, dass die Tiere keinen Schmerz mehr spüren.
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Der Essay "Knocking Out Pain in Livestock: Can Technology Succeed Where Morality has Stalled?" ist im Fachmagazin "Neuroethics" erschienen.
->   Der Essay
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Eine bessere Welt
"Wir müssen unnötiges Leid verhindern", begründet Shriver seine Forderung. Er fordert eine Welt, in der weniger Tiere Schmerzen erleiden müssen. Statt sich generell gegen die Massentierhaltung auszusprechen, sollte es seiner Meinung nach die Gentechnologie ermöglichen, den Tieren ihre Schmerzen zu nehmen.

Shrivers Argumente: Die Farmindustrie sei verantwortlich für das Leid der Tiere, genau das könne man aber mindern, indem man die jetzigen Tiere durch genetisch veränderte Rinder, Schweine etc. ersetzt.

Es gebe einfach zu wenig Menschen, die sich vegetarisch ernähren und immer mehr, die Fleisch essen. Letztere wären bereit, genverändertes, also "schmerzfreies" Fleisch zu kaufen, wenn sie sich im Gegenzug nicht mehr für die Tierleiden verantwortlich fühlen müssten.
Gestresste Tiere
Wer kein genetisch verändertes Fleisch auf dem Teller serviert bekommen will, dem erklärt der Philosoph: "Manche haben vielleicht Zweifel, dieses Fleisch zu essen, weil es nicht natürlich ist. Ich sage: Das Fleisch, das wir jetzt essen, ist auch nicht natürlich."

Shriver behauptet, dass die Fleischqualität durch seine Idee, es genetisch zu verändern, steigen würde: Das Fleisch gestresster Tiere ist qualitativ nicht sehr hochwertig, Tiere, die nicht leiden, würden möglicherweise "stressfreies" Fleisch liefern. In jedem Fall "wäre die Konsequenz besser als beim Status quo zu verbleiben", so der Philosoph.
Schmerzen wegzaubern?
Tierrechtsaktivisten müssten seiner Meinung nach an diesem Lösungsvorschlag interessiert sein - immerhin erleide das Tier dann keine Schmerzen mehr. Begeistert zeigt sich Johanna Stadler, stellvertretende Geschäftsführerin der NGO "Vier Pfoten", aber nicht: "Das Problem sind nicht nur die körperlichen Schmerzen, sondern auch die psychischen - die kann man nicht so einfach wegzaubern", erklärt sie gegenüber science.ORF.at.

Stadler spricht sich gänzlich gegen Massentierhaltungen aus, neben dem körperlichen Tierleiden gebe es noch eine Reihe an Problemen, die Shriver nicht anspreche: "Die Tiere sind oft verstört, krank, geschwächt und neigen manchmal sogar zu Kannibalismus. Durch Gentechnologie verändert sich das nicht. Sich für ein Freilandleben der Tiere einzusetzen, ist die beste Option."
Ethisch neutral
Auch der Evangelische Theologe Ulrich Körtner würde es bevorzugen, eine artgerechte Tierhaltung zu forcieren. Trotzdem hält er es grundsätzlich für ethisch neutral, Gentechnik einzusetzen: "Ich habe keine Bedenken Tiere gentechnisch zu verändern, immer unter der Voraussetzung, dass es weder für das Tier noch für den Menschen negative Konsequenzen hat."

An der Umsetzung von Shrivers Idee zweifelt der Theologe: "Die Bereitschaft in Europa, gentechnisch verändertes Fleisch zu essen, ist denkbar gering." Und: Ist es technisch überhaupt möglich? Würde es Kosten senken oder steigern? Erhöht ein verringertes oder kein vorhandenes Schmerzempfinden nicht die Verletzungsgefahr der Tiere?
Gefahr der gegenseitigen Verletzung
Auch Shriver hegt gegen Ende seines Essays Zweifel: Es müssten noch einige Studien durchgeführt werden, außerdem könnte es negative Konsequenzen geben, wenn Tiere keinen Schmerz mehr spüren: Schon jetzt ist die Gefahr, dass sich Tiere in Massenhaltungen gegenseitig verletzen, groß.

Wenn sie gar keinen Schmerz mehr empfinden, würde dieses Risiko steigen - Vorsichtsmaßnahmen müssten getroffen werden. Das wiederum, so Shriver, könnte zusätzliche Kosten verursachen.

Christine Baumgartner, science.ORF.at, 7.9.09
->   Adam Shriver
->   Vier Pfoten
->   Ulrich Körtner
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Gentechnik-Widerstand in Österreich und Frankreich
->   Massentierhaltung verringert Erbgutvielfalt
 
 
 
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01.01.2010