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Fühlen trotz Amputation und Prothese  
  Der US-Nervenspezialist Todd Kuiken ist Pionier revolutionärer Methoden - z.B. sollen dank einer speziellen Operationstechnik die Betroffenen trotz Prothese fühlen können. Kuiken ist derzeit zu Gast in Wien.  
Pro Jahr werden laut "Otto Bock Healthcare Products" in Österreich rund 2.000 Amputationen mit einer Prothese frisch versorgt - ob Bein, Arm oder Hand.

Die Ursachen für Amputationen sind allen voran Gefäßerkrankungen, meist infolge von Diabetes; schwere Verletzungen und Unfälle sowie bösartige Tumoren. Der US-amerikanische Rehabilitationsmediziner Todd Kuiken tourt derzeit durch Europa und teilt seine Erfahrungen bei Studien und Probanden mit Prothesen-Herstellern und Ärzte-Teams. In Wien war er zu Gast beim Prothesen-Spezialisten "Otto Bock Healthcare Products".
"Wir machen Fortschritte"
Auf der Internet-Seite des Rehabilitations-Instituts Chicago sieht man in einem Video eine junge Frau - sie dreht den Unterarm und schließt gleichzeitig die Hand; öffnet eine Packung Mehl oder schneidet behutsam eine Zitrone - die junge Frau ist die erste Patientin, an der vor einiger Zeit eine spezielle Operationstechnik durchgeführt worden ist, denn ihr fehlt der linke Arm, von der Schulter bis zur Hand trägt sie eine Prothese. Die neuartige Methode nennt sich "targeted muscle reinnervation" - zu Deutsch: "gezielte Muskel-Reinnervation"; also die Versorgung mit Nervenzellen und -fasern.

Derzeit können High-Tech-Prothesen einen Handgriff über eine elektronische Steuerung umsetzen, geben der Trägerin aber wenig Rückmeldung, wie stark sie zupackt. Wird eine Patientin wie jene im Video jemals ihre Amputation bzw. ihre Prothese vergessen können?

Darauf meint der Leiter des US-amerikanischen Neuro-Technik-Zentrums "Neural Engineering Center for Artificial Limbs", Todd Kuiken, im Gespräch mit science.ORF.at:
"Ich hoffe, dass sie einmal nicht mehr viel daran denken müssen. Lange wird es dauern, bis Prothesen so gut sind, wie ein menschlicher Arm - das ist einfach eine wunderbare 'Maschine'. Aber wir machen spannende Fortschritte."
->   Neural Engineering Center for Artificial Limbs
Die fehlende Hand mit der Brust "fühlen"
Prothesen geben wenig Rückmeldung darüber, wie stark die Kunsthand drückt oder greift. Wie viel "Gefühl" bzw. haptische Wahrnehmung können Prothesen der Trägerin vermitteln - bspw. ob eine Tasse heiß ist oder eine Oberfläche rau?

Der Nervenchirurg im Gespräch mit science.ORF.at: "Heutzutage können Sie durch Ihre Prothese nichts fühlen, außer vielleicht Druck an den Schnittstellen zum Körper. Aber wir hoffen, dass wir eine gewisse Sensibilität wieder herstellen können mit der neuen Methode, die wir 'targeted muscle reinnervation' nennen. Da können wir Hand-Nerven umleiten und in die Haut wachsen lassen - wenn Sie bspw. Ihren Arm auf der Höhe der Schulter verloren haben, dann lassen wir die Nerven der Hand in die Brust-Haut einwachsen. Wenn Sie dann auf die Brust drücken, fühlen Sie Ihre fehlende Hand."
Blick-Kontakt
Wird es jemals möglich sein, eine mechanische Hand zu nutzen, ohne hinzusehen, ohne deren Bewegung und Position im Raum mit dem Blick zu kontrollieren? Das nennt Todd Kuiken als besonders große Herausforderung, dass Betroffene nicht mehr hinschauen müssen, wenn sie beispielsweise ein Glas in die Hand nehmen.

Als zweite Herausforderung für die Zukunft nennt er, dass die High-Tech-Methode nicht nur für Arme, sondern auch für Bein-Prothese eingesetzt werden könnte.
Österreicher unter den ersten 30 Patienten
Die österreichische Firma "Otto Bock Healthcare Products" ist diesbezüglich hoch motiviert: sie will die Technik vorantreiben, um sie mehr Menschen zur Verfügung zu stellen, sagt Geschäftsführer Hans Dietl zu science.ORF.at: "Wir sind gerade dabei, die Technik der 'targeted muscle reinnervation' so weit weiterzuentwickeln, dass wir sie breiter anwenden können. Wir haben deshalb Partner und Kliniken aus mehreren europäischen Ländern nach Wien eingeladen und planen in der Folge, diese Technik in Europa in Richtung einer Standardversorgung zu entwickeln."

Geeignet ist die Technik (derzeit) laut Todd Kuiken übrigens für Patientinnen und Patienten, die den Arm oberhalb des Ellbogens oder bei der Schulter verloren haben; sie sollten motiviert sein und keine Nerven-Verletzungen haben. Alter und Geschlecht spiele keine Rolle. Bisher wurden weltweit 30 Personen behandelt - darunter Soldaten, Trauma-Patienten, Krebs-Patienten. Der Zeitpunkt der Amputation spiele übrigens keine allzu große Rolle - maximal zehn Jahre dürfe sie zurückliegen, meint Todd Kuiken auf Nachfrage.

Zu den ersten 30 Patienten weltweit gehörte unter anderem ein junger Steirer: Er hat vor zwei Jahren als erster Patient in Europa eine Art "gedankengesteuerte" Arm-Prothese erhalten; die Firma "Otto Bock" hatte gemeinsam mit dem Wiener Allgemeinen Krankenhaus diese "gedankengesteuerte Prothese" entwickelt; bei der Operation am AKH war Todd Kuiken übrigens anwesend.

Barbara Daser, Ö1 Wissenschaft, 10.9.09
->   Otto Bock
->   Rehabilitation Institute of Chicago
->   "Ärzteblatt" zu Todd Kuiken (Februar 2009)
->   "Businessweek" zu Todd Kuiken (Jänner 2006)
->   science.ORF.at-Archiv zu Prothesen
 
 
 
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01.01.2010