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Atapuerca und die ersten Europäer - Teil 2  
  Die Entdeckungen menschlicher Fossilien im nordspanischen Atapuerca werfen neue Fragen in der Abstammung des Menschen auf. Sie verlangen nach einer Neubewertung bisheriger Funde und Ergebnisse. Deshalb werden jene Funde jetzt einer genaueren Analyse unterzogen, um das Puzzle der Herkunft des modernen Menschen lösen zu können.  
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Die ersten Europäer - Teil1
In Teil 1 der Serie "Die ersten Europäer" entwarfen Antonio Rosas und Markus Bastir einen eingehenden Abriss wichtiger Fragen der menschlichen Abstammung und Herkunft. Sie untersuchten dabei klassische Fragestellungen und Probleme der modernen Paläoanthropologie. Und sie beschrieben die Spuren, die aus der Vergangenheit unserer Vorfahren zu den ersten Europäern führten.
->   'Die ersten Europäer'-Teil 1
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Umfangreiches Forschungsprojekt
In der Nähe der Stadt Burgos, in einem Karstsystem genannt Sierra de Atapuerca, ist in den letzten Jahren ein enormes paläontologisches Forschungsprojekt entwickelt worden. In einem Geländeeinschnitt, der zur letzten Jahrhundertwende im Rahmen der Errichtung einer Eisenbahnstrecke vorgenommen wurde, hatte man seit 1978 vereinzelte Fossilien entdeckt.

Auf der Suche nach fossilen Höhlenbärzähnen stieß man schließlich auch auf menschliche Überreste und mittlerweile ist das Projekt so stark angewachsen, dass Sommer für Sommer über 100 internationale Mitarbeiter auf bis zu sechs verschiedenen Ausgrabungsstellen gleichzeitig arbeiten.
Lagerstätten mit reichem Fossilmaterial
Diese Fundorte decken in ihrer Gesamtheit beinahe den kompletten Zeitraum des Pleistozäns (die geologische Epoche vor 1.7 Millionen bis vor 30.000 Jahren) ab. Auf acht verschiedenenen Lagerstätten findet man reiches Material menschlicher Fossilien oder deren Hinterlassenschaften.
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Indirekte Nachweise
In der Sima del Elefante mit einem Alter von 1.2 Millionen Jahren wurden im letzten Jahr bereits indirekte Hinweise auf eine menschliche Präsenz in Form von Splittern, die bei der Werkzeugherstellung entstehen, entdweckt. Die Sima de los Huesos, mit einem Alter von ca. 300.000 Jahren brachte Reste von bis zu dreissig identifizierbaren Individuen von Homo heidelbergensis ans Tageslicht. Dadurch können einzigartige Fragestellungen über die Evolution des Menschen beantwortet werden. Atapuerca liefert aber auch noch weitere Sensationen, die unter anderem zu einer kompletten Umstrukturierung der menschlichen Stammesgeschichte führen musste.
->   Mehr zum Homo heidelbergensis
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Eine Serie von Sensationen
Hatte bis zum Jahre 1994 noch niemand an ein höheres Alter menschlicher Besiedlungsspuren in Europa geglaubt, so musste sich dieses Bild ab jenem Jahre drastisch ändern.
Das geologische Alter einer Fossilienlagerstätte kann man mit absoluten und mit relativen Methoden beurteilen.

Unter den relativen Techniken, ist v.a. die biostratigrafische Methode sehr wichtig. Sie macht sich die Grundeigenschaft der Evolution, die Veränderlichkeit der biologischen Arten zunutze. Anhand der Präsenz oder Abwesenheit von sogenannten Leitfossilien, das sind leicht identifizierbare und kontinuierlich gut dokumentierte Spezies, meistens Nagetiere, lässt sich das Alter von ihnen assoziierten Funden relativ gut bestimmen.
Keine 'gesicherten' Vorfahren vor 500.000 Jahren?
Holländische und englische Forscher publizierten, dass es in Europa keine "gesicherten" menschlichen Vorfahren vor einer halben Million gäbe. Das evolutionäre Verschwinden einer bestimmten Art Nagetier, genauer gesagt, einer Art Maulwurf, Mimomis savini, gibt exakt jenen Zeithorizont vor etwa 500.000 Jahren an, ab dem man in Europa menschliche Fossilien finden kann.

Erst an diesem Punkt vor etwa 500.000 Jahren, als sich 'Mimomis savini' zu seinen evolutionären Nachfolger 'Arvicola cantiana', entwickelt hätte, so die Wissenschafter, sollten menschliche Reste aufzufinden seien. Der Unterkiefer von Mauer und das Schienbein von Boxgrove wurden gemeinsam mit Zähnen von Arvicola cantiana gefunden.
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Quarzitwerkzweuge als entscheidende Hinweise
Anfangs der 90er Jahre nutzte man einige Sedimentvorsprünge, die den Schichten TD4 und TD5 der Gran Dolina (die Gran Dolina ist eine der vielen Lagerstaetten Atapuercas. Die Abkuerzung TD für spanisch Trinchera de la Gran Dolina - d.h. "der Graben", die Ziffer 4 oder 5 bezieht sich auf den geologischen Horizont) entsprechen, um jene unteren Abschnitte dieser 18 Meter hohen Sedimentschicht zu erforschen. Dabei legten die Wissenschafter einige plumpe Quarzitwerkzeuge frei. Das besondere daran war, dass jenes Material gemeinsam mit Fauna, welche 'Mimomis savini' enthielt, ausgegraben wurde. Sollte es doch Siedlungen menschlicher Vorfahren vor 500.000 Jahren gegeben haben? Diese Entdeckung war bereits eine Sensation, allerdings erst die erste einer für die Forschung atemberaubenden Serie an Überraschungen.
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Probegrabungen sollten Klärung bringen
Um diese brennenden Fragen zu klären, beschlossen die Wissenschafter des Forschungsteams von Atapuerca die Probegrabungen vom obersten Horizont bis in die Tiefe vorzunehmen.

Auf einer Fläche von etwa sechs Quadratmetern wurde Schicht für Schicht das Sediment abgetragen und, um sicherzugehen, mittels paläomagnetischer Bestimmungsmethoden auch absolut datiert. Hierbei macht man sich die Eigenschaft zunutze, dass sogenannte Polsprünge, das sind globale Umkehrungen des irdischen Magnetsystems, in eisenhaltigem Gestein gemessen werden können.
Europa schon früher besiedelt
Eine nächste Überraschung wartete auf die Forscher. In der Schicht TD7 wurde ein Polsprung, der sogenannte Matuyama/Brunhes Wechsel, festgestellt, der sich vor 780.000 Jahren vollzogen hatte und den Übergang vom unteren ins mittlere Pleistozän markiert. Ein enormes Alter für die menschliche Evolution in Europa.

Im Zuge der Grabungsarbeiten nun, einen Meter unterhalb des Wechsels Matuyama/Brunhes wurde das Team am 6. Juli 1994 in der Schicht TD6 fündig. Bis zu 80 Überreste menschlicher Fossilien von mindestens 11 Individuen, sowie etwa 200 Exemplare lithischer Industrie (wie die Gesamtheit der Steinwerkzeuge und deren Derivate bezeichnet wird) tauchten auf.

Damit war klar, dass Europa - durch absolute und relative Datierung gesichert - vor zumindest 780.000 Jahren besiedelt wurde. Eine weitere Sensation! Das Bild der Evolution des Menschen musste sich von Grund auf ändern. Aber wie? Für das Verständnis dieser Frage ist etwas Anatomiekenntnis erforderlich, denn die Antwort findet man sozusagen im "Gesicht" dieser Hominiden.
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Ein wichtiges morphologisches Gesichts-Merkmal
Wenn man mit der Hand vom Auge abwärts die Wangenknochen betastet, so stellt man am unteren Rand eine grubenartige Vertiefung fest, die sogenannte fossa canina. Diese Grube ist ein wichtiges morphologisches Kennzeichen unserer eigenen Art, Homo sapiens. Keine andere Vorform der Menschen, weder Homo erectus, noch Homo heidelbergensis, noch die Neandertaler weisen diese fossa canina auf. Erst bei den anfangs erwähnten Fossilien moderner Menschen aus Afrika und dem nahen Osten, mit einem Alter von 130 - bis 100.000 Jahren, hatte man die fossa canina identifiziert.
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Überraschende Entdeckung
Um so überraschender war die Feststellung daher, dass einige der Fossilien von TD6, im speziellen ein Gesichtsskelett, das einem 11-jährigen Kinde zugerechnet wird, und der Wangenknochen eines jungen Erwachsenen eine fossa canina aufwiesen.

Antonio Rosas und Markus Bastir.
Teil 3 am 2.7.2001
Lesen Sie nächsten Montag in Teil 3 der Serie "Die ersten Europäer" über die Folgen der in Atapuerca gefunden Fossilien für die Abstammung des Menschen und der ersten Europäer sowie die daraus enstehenden neuen Evolutionsmodelle.
->   'Die ersten Europäer'-Teil 1
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Antonio Rosas
Dr. Antonio Rosas arbeitet als Paläoanthropologe und Titularforscher am CSIC und ist Direktor der Abteilung für Paläobiologie am Museo Nacional de Ciencias Naturales in Madrid. Er ist weiters Gründungsmitglied der Forschungsgruppe Atapuerca und Leiter des Ausgrabungsorts Sima del Elefante.
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Markus Bastir
Mag. Markus Bastir studierte in Wien und Madrid Anthropologie. Er arbeitet gegenwärtig als Doktoratsstudent und Stipendiat an der Abteilung für Paläobiologie am Museo Nacional de Ciencias Naturales in Madrid sowie an der Universidad Autonoma de Madrid.Er ist seit 1999 Mitarbeiter des Forschungsteams Atapuerca.
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->   Mehr zu Atapuerca
->   Museo Nacional de Ciencias Naturales
->   Viel allgemeine und Viel Hintergrund-Informationen zu Evolution
 
 
 
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01.01.2010