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Von der Messlatte zum Toten-Schädel  
  Anlässlich der jetzt präsentierten Dokumentation "Von der Messlatte zum Toten-Schädel" wird die Geschichte der Anthropologie zwischen dem Beginn des 20 Jahrhunderts und dem Ende des 2. Weltkriegs kritisch beleuchtet.  
Die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entstandene Wissenschaftsdisziplin der Anthropologie wurde in der Zeit des Nationalsozialismus instrumentalisiert zum Zwecke ideologischer und staatstragender Implikationen. Anlässlich der Premiere des Dokumentarfilms "Von der Messlatte zum Toten-Schädel" im Wiener Naturhistorischen Museum stand der "vermessene Mensch" im Blickpunkt.
Eine liberale Disziplin
Wie wohl nur wenige andere Disziplinen hat die Anthropologie einen beachtlichen "Boom" hinter sich. Denn erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verfügte die Lehre vom Menschen über die geeigneten Messinstrumente, um Eingang in die verifizierbare Forschung zu finden. Davor waren es die aus kolonialer Zeit stammenden Zirkel der Bildungsbürger-Schichten, die sich - mehr oder weniger wissenschaftlich - für den "Anderen" interessierten.

Maria Teschler-Nicola, Direktorin der Abteilung Archäologische Biologie und Anthropologie des Naturhistorischen Museums in Wien: "Schon früh bezog die Anthropologie auch die Ethnografie und die Urgeschichte mit ein. Sie bildete ein methodisch exaktes Repertoire heraus und wurde zum Oberbegriff einer kollektiven Wissenschaft vom Menschen. Die Anthropologie gilt bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs als Paradebeispiel für eine liberale Wissenschaft".
->   Geschichte der Anthropologie
Dokumentation
Der von dem Theaterwissenschafter Dr. Martin Luksan produzierte Dokumentarfilm "Von der Messlatte zum Totenschädel" behandelt die Methoden der Rassenanthropologie am Beispiel der österreichischen Forschung.

Der Film verbindet die Darstellungen der normalen Methoden der Rassenforschung seit Rudolf Pöch mit den makabren Verirrungen im Krieg. Er entstand zusammen mit Otto Mörth vom Institut für Theaterwissenschaft in Wien und dem Musiker Mathias Szarbinski. Die finanzielle Unterstützung kam vom Naturhistorischen Museum, vom Institut für Humanbiologie und vom Institut für Theaterwissenschaft.

Eine Ausstrahlung der 43-minütigen Dokumentation im Bayrischen Rundfunk ist fix. ORF und SRG zeigen sich interessiert und ein polnischer TV-Sender ist angefragt.
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Rudolf Pöch
Der Wiener Anthropologe Rudolf Pöch brachte von seinen ausgedehnten Reisen nach Neu-Guinea, Australien und Südafrika reichhaltige Untersuchungsmaterialien mit und gründete 1927 das Institut für Anthropologie und Ethnografik. Er hatte sich besonders für physische Merkmale interessiert. Der Wert seiner Erkenntnisse muss heute relativiert werden. Mit seinen ethnografischen und linguistischen Ergebnissen jedoch arbeitet die Anthropologie bis heute.
->   Geschichte der Wiener Anthropologie
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Drauf- und Untersicht
Luksan führt über die Intentionen des Films ins Treffen, beim Durchblättern von alten anthropologischen Bildstudien das Gefühl gehabt zu haben, dass hier oft mit einer "kalten Sicht auf die Völker" vorgegangen wurde. "Meiner Ansicht nach sollte damit das Gefühl der Überlegenheit einer anderen Rasse gegenüber unterstützt werden."

Das in aktuellen Studien kritisierte Naheverhältnis zwischen anthropologischem Forschungsinteresse und polizeilicher Erkennung anhand der typischen dreigeteilten Fotos wurde besonders während der NS-Zeit gepflegt. In einem Gesichtsabguss sollten die rassetypologischen Merkmale möglichst bildhaft werden. Auch diese Technik wurde beizeiten missbraucht.
Nach dem 'Anschluss'
Bereits seit Ende des 1. Weltkriegs wurden die Juden als "Rasse" geführt. Mit dem "Anschluss" Österreichs mussten Juden sich registrieren und fotografieren lassen. Somit verfügte das Institut innerhalb kürzester Zeit über ein enormes Bildmaterial.
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'Stadionjuden'
In der Dokumentation wird auch auf die sogenannten "Stadionjuden" eingegangen. Diese Gruppe von Menschen wurde im Wiener Stadion zusammengetrieben mit einer dezidierten Vermessungsabsicht. Viele von ihnen wurden anschließend nach Birkenau deportiert. Ebenfalls werden die Stereotypen "Bergjude" und "Barneger" behandelt.
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Aktuelle Situation
Als Teil der selbst-reflexiven Aufarbeitung der Geschichte des Fachs sind zwei interdisziplinäre Forschungsprojekte u.a. mit dem Institut für Zeitgeschichte initiiert worden. Dabei geht es um die Betonung der Gleichartigkeit und nicht um die Hervorhebung der Unterschiede.

Die Ergebnisse dieser Gesamtansicht der Geschichte der Anthropologie sollen in eine Dauerausstellung integriert und mittels geeigneter Medien (Datenbank, CD-Rom) zu erhöhter Transparanz und Rezeption beitragen.

Heini Deisl
->   Naturhistorisches Museum Wien
->   Archäologische Biologie und Anthropologie
->   Martin Luksan
 
 
 
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01.01.2010