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Holocaust-Pläne: Alliierte wussten früh Bescheid  
  Die USA wussten seit Frühjahr 1942 von den Plänen der Nazis zur Vernichtung der europäischen Juden. Dies geht aus einem am Montag veröffentlichten Dokument des US-Geheimdienstes COI hervor, Vorgänger des heutigen CIA.  
Das Dokument mit dem Datum 20. März 1942 wurde vom US-Historiker Richard Breitman von der Universität in Washington entdeckt. Es gehört zu rund 400.000 Seiten als streng vertraulich eingestufter Dokumente, welche die nationalen US-Archive im Juni 2000 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hatten.
Neu belebte Debatte
Nach Ansicht Breitmans wird es die Debatte darüber, wann die Alliierten von den Holocaust-Plänen der Nationalsozialisten wussten, neu beleben.

Breitman zitiert unter anderem ein Geheimtelegramm des chilenischen Beauftragten in Prag, Gonzalo Montt Rivas, an seine Regierung vom 24. November 1941. Darin berichtet der Diplomat von der Absicht der Nazi-Behörden, die Juden zu vernichten.

Die Nationalsozialisten seien dabei, "das jüdische Problem teilweise zu lösen, da entschieden ist, alle Juden auszulöschen und bestimmte nach Polen zu schicken", heißt es darin.
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Die Pläne der Vernichtung
Nachdem durch die 1935 beschlossenen Nürnberger Rassengesetze eine Entrechtung der Juden vorgenommen worden war, steigerten sich die Übergriffe nun in Gewalttätigkeiten wie die "Reichskristallnacht" 1938. 1942 kam es zu einem dramatischen Wendepunkt in der Judenverfolgung. Die systematische Vernichtung der Juden in Europa wurde am 20.1.1942 auf der Wannsee-Konferenz beschlossen. Heydrich, der den Vorsitz bei der Versammlung hatte, berichtete Staatssekretären und hohen Parteibeamten über bisherige Versuche und Experimente mit Methoden der "Massenvernichtung" und über den Bau von Vernichtungslagern. Der Bau dieser Lager, in denen nach den effektivsten Methoden zum Völkermord gesucht wurde, hatte bereits im Sommer 1941 begonnen.
->   Protokoll der "Wannsee-Konferenz" im Wortlaut
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Genaue Pläne waren bekannt
Auch später wiederholt Rivas noch einmal: "Deutschland wird die Vernichtung der Juden erledigen." In Theresienstadt beispielsweise sollten die tschechoslowakischen Juden gesammelt werden.

Das Telegramm wurde vom britischen Geheimdienst aufgefangen und später an die USA weiter übermittelt.
Geringe Wirkung beunruhigend
Es sei "beunruhigend", dass eine so wichtige Quelle über die Politik der Nazis damals so wenig Wirkung auf die Regierungen der westlichen Länder gehabt habe, sagte Breitman. Ihm zufolge galt bisher nur als gesichert, dass die Alliierten von Herbst 1942 an aus zahlreichen Quellen Hinweise auf das Vorhaben der Nazis erhielten.

Das chilenische Telegramm sei jedoch bereits im Frühjahr 1942 angekommen, lange vor der ganzen Flut von Informationen. Im Januar 1942 planten die Nazis bei der Wannsee-Konferenz Details ihrer Vernichtungspolitik.
Eindeutige Funksprüche
Richard Breitman hat schon anhand seines 1997 veröffentlichten Buches "Staatsgeheimnisse. Die Verbrechen der Nazis - von den Alliierten toleriert" Ähnliches versucht. Er wertet darin Quellen aus britischen und amerikanischen Archiven systematisch aus, um zu klären, wann und was die Alliierten über den Holocaust während des Krieges wussten und weshalb sie so passiv blieben.

Spektakulär an Breitmans Analyse waren die von ihm eingesehenen Funksprüche der Polizeibataillone der "Ordnungspolizei", die im besetzten Polen und Russland Deportationen und Massenexekutionen durchführten.

Tausende dieser Funksprüche waren in amerikanischen und britischen Archiven teilweise bis 1997 unter Verschluss gehalten worden. Diese Quellen enthüllen nun, dass zumindest die Briten ab Februar 1940 von Massenhinrichtungen in Polen wussten.
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Code bereits 1939 entschlüsselt
Englische Kryptographen hatten den Code schon im September 1939 geknackt und beispielsweise 1940 allein im ersten Halbjahr 10.600 einzelne Funksprüche aufgefangen und entschlüsselt. Denn im Gegensatz zu den höheren Stellen der SS, SD und Gestapo verwendete die Ordnungspolizei zur Verschlüsselung ihrer Funksprüche keine Enigma-Maschinen. Darüber hinaus gab es in den ersten beiden Kriegsjahren Dutzende sehr offener deutscher Funkberichte über Massenerschießungen.
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Wissen wog umso schwerer
Auch nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, als das Codesystem verändert wurde, entschlüsselten die britischen Experten schon Ende Juli 1941 über die Hälfte aller Funksprüche. Und Ende August 1941 wussten sie von den Nazi-Absichten zur
Judenvernichtung.

Doch schon im Sommer 1942 war auch dem damaligen britischen Geheimdienst SIS klar, das in Treblinka und Majdanek Tausende Menschen in kurzen Zeiträumen ermordet wurden, weil die Codes der Reichsbahn-Funksprüche und die statistischen Funkberichte aus den Lagern entschlüsselt werden konnten.

Dieses Wissen wog um so schwerer, als es sich um deutsche Funksprüche handelte, also um eben jene stichhaltigen Beweise, die London und Washington immer wieder verlangt hatten, bevor sie sich zum Holocaust öffentlich auch nur äußern, geschweige denn Maßnahmen ergreifen wollten. Erst am 17. Dezember 1942 nahmen die Alliierten in einer gemeinsamen Erklärung Stellung.
Ungenutzte Erkenntnisse
Das Wissen der Geheimdienste blieb trotz der vorliegenden Erkenntnisse ungenutzt. Auch Breitman kann nicht erklären, warum beispielsweise das britische Außenministerium das Material nicht beachtete. Das entsprechende Archivmaterial ist noch immer geheim.

Der amerikanische Geheimdienst erfuhr angeblich erst im Frühjahr 1943 das ganze Ausmaß des Judenmordes. Bis dahin hatten die Briten alle Informationen für sich behalten - obgleich die Briten den Sowjets im Tausch deutscher Codes etliche dieser Informationen schon seit 1941 übergeben hatten.

(red)
->   Department of History der American University
->   American Jewish Archives
->   Was die Alliierten 1942 über Auschwitz wussten
 
 
 
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01.01.2010