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Der Spaziergang - eine bürgerliche Praktik  
  Er war bereits den Peripatetikern des alten Griechenland bekannt. Zur kulturellen Alltagspraxis wurde der Spaziergang aber erst, als sich vor 200 Jahren das moderne Bürgertum formierte.  
Zuvor war der Spaziergang ein höfisches Zeremoniell gewesen, mit dem der Adel seine feudale Macht und Herrschaft demonstrierte. Die Natur diente als bloße Kulisse und das Bürgertum als dekorierendes Spalier.
Flanieren in kaiserlichem Grün
Spazieren gehen bedeutete damals Flanieren in einer entsprechend gestalteten Umgebung. In Wien wurden die kaiserlichen Gärten für den Bürger geöffnet: der Augarten 1775, der Prater ein Jahr später.

In Europa entstanden große Promenaden und Landschaftsparks nach englischem Vorbild. Der bürgerliche Spaziergänger bewegte sich nicht in freier Wildbahn, sondern in einer behutsam domestizierten Natur.
Vergnügen und Erholung
Der Spaziergang entwickelte sich zum geselligen Zeitvertreib, von dem sich der Bürger Erholung, Naturgenuss, politisches Räsonnieren, Sehen und Gesehenwerden versprach. Das Gehen in der Natur wurde zu einem unaufwendigen und beliebten Freizeitvergnügen für jedermann.

Aus dieser Tradition entwickelten sich die auch heute noch unternommenen Spaziergangvarianten: der Verdauungsspaziergang, der Osterspaziergang, der unter Jugendlichen zunehmend verhasste Familienspaziergang.
Symbol beginnender Freizeitkultur
Auch die Trennung von Arbeit und Freizeit, ein wesentliches Merkmal bürgerlicher Existenz, zeigt sich in der Gestalt des Spaziergängers. Wer einen Erholungsspaziergang unternimmt, demonstrierte, dass er Zeit hat.

Doch diese Erholung setzt Mühe und ein bürgerlich-calvinistisch geprägtes Arbeitsethos voraus. Nur wer regelmäßig arbeitet, durfte Zeit für einen Spaziergang haben. Spaziergänger laufen leicht Gefahr, mit bloßen Müßiggängern und Zeitvergeudern verwechselt zu werden.

Nachzulesen in der ironischen Erzählung ''Der Spaziergang'' des Schweizer Schriftstellers Robert Walser.
Der Spaziergang als intellektueller Streifzug
Robert Walser, der auf einem Spaziergang tot in den Schnee fiel, war nicht der einzige leidenschaftliche Promeneur unter den Autoren. Auch Franz Kafka war als urbaner Flaneur ständig in den Gassen von Prag unterwegs.

Punkt sieben am Abend pflegte der Aufklärer Immanuel Kant sein Haus für einen Spaziergang zu verlassen. Der Denker, in philosophische Grübeleien versunken, ging am liebsten allein. Außerdem mochte er sich nicht dem Schritttempo eines anderen anpassen.

Viele Autoren beschäftigte die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Spazieren gehen. Die Synchronizität von Geh- und Denk-bewegung taucht als literarischer Topos immer wieder in Werken auf. (siehe Thomas Bernhard, ''Gehen''.)
Der Spaziergang als ästhetischer Parcour
Seit 30 Jahren beschäftigt sich der Schweizer Lucius Burckhardt mit der Soziologie und Ästhetik des Spaziergangs. Neben theoretischen Überlegungen zur ''Promenadologie'' entwirft und realisiert Burckhardt Spaziergänge als ästhetische Parcours.

Burckhardts Spaziergänge führten durch die Städte Bordeaux, Turin und St. Pölten. Aber auch durch vermeintliches Ödland wie dem stillgelegten Braunkohle-Tagbau ''Golpa Nord'' in Sachsenhausen.
Landschaft entsteht im Spaziergänger-Kopf
Burckhardt, lange Jahre Professor für Sozioökonomie urbaner Systeme an der Gesamthochschule in Kassel, erhebt den Spaziergang zur Kunstform, zu, ästhetischen Wahrnehmungslehrgang.

Sein Credo lautet: Die Natur wird erst im Kopf des Betrachters zur Landschaft. Auch das Bild einer Stadt ist ein Konstrukt der Wahrnehmung, das räumlich erst durch den Spaziergang entsteht.
Über die Fußböden der Stadtvegetation
Am Wiener Institut für Landschaftsplanung und Ingenieurbiologie beschäftigt sich Gerda Schneider mit Freiraumgestaltung in der Stadt. Eine zentrale Rolle spielen dabei die urbanen Gehwege. Sie stellen für die Landschaftsplanerin so etwas wie die ''Fußböden der Stadtvegetation'' dar.

Spazierwege verbinden die ''Orte vor der Haustür'' miteinander und stellen das Pflaster für die alltäglichen Lebensbedürfnisse der Stadtbewohner dar. Spaziergange müssen als ''Freiraumzonen für die individuelle Freizeitgestaltung'' erhalten bzw. neu geschaffen werden.
Moderne Tempovarianten des Spaziergangs
Der Spaziergang wurde durch den Sport und das Automobil in den Windschatten gestellt. Die Autospazierfahrt in die Sommerfrische, die Wochenend-Rundreise auf vier Rädern, eröffnet einen panoramatischen Blick auf eine unbekannte Gegend.

Durch die rasante Fortbewegung mit dem Auto, meint der Schweizer Spaziergangsforscher Lucius Burckhardt, gerät die Bildverarbeitung im Kopf allerdings ins Stottern. Der Auto-Rundreisende ist nicht mehr in der Lage, die verschiedenen Eindrücke zu einem Gesamtbild zu verschmelzen.
Das Ende eines Rituals?
Die deutsche Kulturwissenschafterin Gudrun König meint, dass die ''ritualisierte Form des zielgerichteten Spaziergangs'' in der Zukunft verschwinden wird. Andere Freizeitbeschäftigungen wie Sport oder Shopping werden den klassischen bürgerlichen Spaziergang verdrängen.

Als Kulturpraktik, die das Leben entschleunigt, könnte der Spaziergang allerdings erhalten bleiben. Beim Spazieren gehen wird die Betriebstemperatur der Maschine Mensch heruntergefahren. Der langsamere Pulsschlag des Spaziergängers könnte gleichzeitig seine Wahrnehmungsfähigkeit erhöhen.

Ein Beitrag von Armin Stadler für die Ö1-Dimensionen
->   Ö1
 
 
 
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01.01.2010