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Cotillons: Tanzspiele des 19. Jahrhunderts  
  Die Unterdrückung und Verweigerung des Wahlrechtes nach dem Wiener Kongress ließ in den Salons und Ballsälen der Biedermeierzeit das Phänomen der Cotillons entstehen: witzige, erotische und poetische Tanzspiele, bei denen die Partnerwahl häufig in den Händen der Frauen lag. Die Musikwissenschaftlerin Hannelore Unfried beschreibt für science.ORF.at diesen reizvollen und keineswegs harmlosen Teil der k. u. k. Ballkultur, der das (Frauen-)Wahlrecht auf Probe einführte.  
TanzSPIELE (Cotillons) oder das Frauenleben in der Kaiserzeit - ein KinderSPIEL?
Von Hannelore Unfried

In der Zeit rund um die französische Revolution prallte das Vergnügen Walzer zu tanzen auf das bürgerliche Frauenideal von Sittsamkeit und Lustfeindlichkeit: "Das Weib muß dienen und gehorchen, scheiden/ von jeder eigenen Lust, / Denn sie ist nicht zum Glück nach eigenen Trieben/ zu fremden Vorteils Werkzeug nur erkoren", schrieb Wilhelm von Humboldt 1809.
Berauschender Walzer: "Ich war kein Mensch mehr" (J. W. v. Goethe)
Während ein Menuett in erheblicher körperlicher Distanz ausgeführt wurde und Kontratänze durch abwechselnde Figuren vielfältige Kontakte mit anderen Tänzern herstellte, erforderte der Walzer eine ausschließliche Zuwendung und Hingabe an einen einzigen Partner.

Die Monotonie des gleichbleibenden Schritts und die fortgesetzte Drehung förderte einen entrückten, "geistlosen", ja tranceähnlichen Zustand. Von vielen Autoren wurde der Walzer deshalb mit den Genüssen der geschlechtlichen Vereinigung gleichgesetzt. Goethes Werther möchte es nicht dulden, dass seine Auserwählte mit einem anderen Mann einen Walzer genießt!
Partnerwahl - die entscheidende Wahl im Leben vieler Frauen
Die Wahl des Ehepartners war die folgenschwerste Weichenstellung für viele Frauen. Privates Glück, wirtschaftliche Existenz und soziale Stellung standen auf dem "SPIEL". Es entwickelte nur eine verschwindende Minderheit eine eigenständige Identität unabhängig von der Rolle als Ehefrau und Mutter und schuf sich einen eigenen Lebensraum (z.B Madame de Staël, Fanny von Arnstein oder Ida Pfeiffer, die Weitgereiste).

Bälle und Tanzveranstaltungen boten Gelegenheit zu Kontakten mit dem anderen Geschlecht, die nicht selten zu Lebensgemeinschaften führten, was bis heute noch vorkommt. Deshalb kommt dem Ritual von der "Aufforderung zum Tanz" eine so wichtige Rolle zu. Sie spiegelt nach wie vor die männliche Dominanz in der Gesellschaft wider - die Geschlechterrollen sind klar verteilt.
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Erfolge und Rückschläge (backlash) im Kampf um Frauenrechte
Die Parolen der französischen Revolution brachten nicht nur Bewegung in die bestehenden Machtverhältnisse der sozialen Schichten, sondern auch der Geschlechter. Auf kleine Erfolge im Kampf um mehr Rechte für Frauen folgten große Rückschläge (z.B. im code civil 1804 wurde der Ehemann zum gesetzlichen Vormund seiner Gattin).

Ein politischer Hauptkonflikt - der Kampf um das Wahlrecht -brachte in Österreich 1907 den Männern das allgemeine Wahlrecht. Frauen mussten dafür sogar noch das Ende der Monarchie abwarten (1919) - der Gleichheitsgrundsatz war jedoch seit 1867 in der österreichischen Rechtsordnung verankert!
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Der Cotillon als Ventil für die entrechtete Frau im 19. Jahrhundert
Kurz nach dem Wiener Kongress, der den politischen Sieg der konservativen Kräfte besiegelte, begann die steile Karriere des Cotillons. In dieser Aneinanderreihung von TanzSPIELEN wurden die starren, unüberwindlichen Konventionen der Tanzpartnerwahl für kurze Dauer außer Kraft gesetzt und oft sogar in ihr Gegenteil gekehrt.

War es Frauen über Jahrhunderte hinweg nicht gestattet, eine Einladung zum Tanz ohne gesellschaftliche Winkelzüge abzulehnen, geschweige denn aktiv einen Mann aufzufordern, so wurde der Cotillon zum Vorreiter und Experimentierfeld weiblicher Initiative.
Zu Klängen von Schubert und Strauß
Zu einer Art Potpourri aus den jeweils aktuellen Modetänzen bildeten alle (tanzenden) Ballbesucher einen Kreis und begrenzten das magische Terrain des Cotillon.

Ein Tanzarrangeur reihte einige kurze SPIELabschnitte aneinander, die als Folge jeweils eine neue Tanzpaarung herbeiführte. In dieser wurde dann einmal im Saal herum getanzt und die ursprüngliche Aufstellung im Kreis wieder eingenommen. Sowohl SPIELabschnitt als auch Rundtanz wurden meist nur von einem Teil der Tanzgesellschaft vor den neugierigen und amüsierten Zuschauern ausgeführt.
Der Zufall führt Regie

Das Polsterkissen. Bernhard Klemm: Katechismus der Tanzkunst. Leipzig 1887.
In vielen SPIELEN führte der Zufall z.B. durch je zwei entsprechende Requisiten die Tänzer zusammen. Besonders brisant waren jedoch die Vexiertouren, in denen die Dame mehreren Herren hintereinander Glauben machte, der Auserwählte zu sein.

In ihnen durfte die Dame "solange provociren, bis sie den rechten gefunden hat, der ihr convenirt, mit welchem sie dann abwalzt." Es wurde z.B. ein Kissen oder ein Taschentuch vor dem scheinbar Erwählten auf den Boden gelegt, worauf er sich niederknien musste. Zog die Dame jedoch rasch die Unterlage weg, so schmerzte den Herrn nicht nur die gekränkte Eitelkeit (vgl. Abb 1).

Teils witzig, teils jedoch verletzend wurden Redewendungen wie "sich einen Mann angeln" oder "jemand einen Korb geben" inszeniert. Zeitlos wie harmlos sind KinderSPIELE wie "Blinde Kuh" oder PfänderSPIELE (hier "Zauberhut" genannt).
SPIELwaaren und Cotillon = Confectionsgeschäft

In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zeichnete sich der Cotillon durch immer aufwendigere Vorbereitungen und SPIELrequisiten aus (vgl. Abb. 2).

Während im Jahr 1878 in Paris der erste Internationale Frauenrechtskongress stattfand erschienen in Wien 100 Cotillon=Touren des Akademie=Tanzlehrers Carl Haraschin, der auch eine Bezugsadresse für die "erforderlichen Apparate und Ausstattungen" angab.
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Unverhohlene sexuelle Symbolik
Hier einige Beispiele:

Nr. 63: "Der Zaubertisch" verfügte über eine "mechanische Vorrichtung", die vor den beiden zur Wahl stehenden Männern zwei Figuren - einen jungen und einen alten Mann - herausschnellen ließ.
Nr. 4: Durch chemische Präparierung färbte sich einer der "empfindlichen Pfeile" rot, wenn "Mann" sie in Säure tauchte.
Nr. 19: "Das Herz" der Dame war mit einem Schloss versehen und ein Tänzer nach dem anderen durfte probieren, ob sein Schlüssel in ihr Schloss passt.
Nr. 31: Mit feinem Papier bespannt versperrt "der Reif" den Zugang zur Tänzerin. Gelingt es nicht im ersten Sprung, diesen zu durchstoßen, ist der nächste Anwärter an der Reihe.
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Frauenleben - Kinderleben ein KinderSPIEL?
Während Frauen im 19. Jahrhundert durch männliche Vormundschaft entmündigt wurden, sicherten Kinder mit ihrer Arbeit den wirtschaftlichen Profit im industriellen Zeitalter. Das Paradoxon: mit Cotillonartikel aus Kinderarbeit SPIELTEN Frauen Wahlfreiheit!

Mit der zunehmenden Lockerung der gesellschaftlichen Umgangsformen verlor der Cotillon seine Attraktion. Das Thema Wahlfreiheit für Frauen hat allerdings seit der Biedermeierzeit nicht viel an Brisanz verloren: In einem Zeitungsinterview (Kronenzeitung 25.1.1997) antwortete die designierte Frauenministerin auf die Frage: Wissen Sie, was Frauen wollen? "Ja, das weiß ich. Frauen wollen Wahlfreiheit. "
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Hannelore Unfried und "University meets public"
Hannelore Unfried unterrichtet an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, Abt. für Streichinstrumente und andere Saiteninstrumente.

In der Reihe "University meets public" hält sie vier Vorträge über die "Tanzspiele des 19. Jahrhunderts":
Am 9.4. und 16. 4., jeweils um 19.00 Uhr in der Volkshochschule Favoriten, sowie am 23. 4. und 30.4., jeweils um 18.00 Uhr in der Volkshochschule Brigittenau.

Literatur:
Hannelore Unfried: Der Cotillon - Ein Gesellschaftsspiel in Tanzform oder: Wer gibt wem den Korb?. Wien 1996 ISSN 1022-7725.
Hannelore Unfried: Cotillon - Vorspiel-Spiel des Paartanzes im 19. Jahrhundert. in: Sommerakademie Volkskultur 1995/1996. Wien 1997.
->   University meets public
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01.01.2010