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Zikaden: "Primzahl-Zyklus" gegen Feinde  
  In weiten Teilen Nordamerikas treten Zikaden auf, die sich alle 13 oder 17 Jahre über der Erde massenhaft vermehren - danach leben sie als Larven wieder 13 oder 17 Jahre unter der Erde. Ein internationales Forscherteam könnte nun das Rätsel gelöst haben - die Insekten leben offenbar in einem "Primzahl-Zyklus", um ihr Überleben zu sichern.  
Die Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für molekulare Physiologie in Dortmund und der Universidad de Chile haben sich des ungewöhnlichen Lebenszyklus der Zikaden angenommen. Sie entwickelten ein Jäger-Beute-Modell, in dem nur Lebenszyklen, deren Länge eine Primzahl von Jahren ist, stabil sind.
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"Im Zikadenleben zählen Zahlen"
Über diese Arbeiten berichtet die neue Ausgabe der "MaxPlanckForschung", das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft. Das 96 Seiten umfassende Heft berichtet über aktuelle Arbeiten aus den Instituten der Max-Planck-Gesellschaft.
->   "MaxPlanckForschung"
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Tennessee: Zikadenplage alle 17 Jahre
Bild: Lee Jenkins, Department of Entomology, University of Missouri
Im Jahr 1634 erlebten europäische Siedler im Osten Tennessees erstmals eine Zikadenplage. Seitdem wiederholt sich die Massenvermehrung dieser Insekten regelmäßig alle 17 Jahre - und wurde so auch 1991 pünktlich zum 22. Mal registriert.

Zu Beginn werden die Böden von Plantagen oder Wäldern über Nacht durchsiebt: Aus kleinen, nahe beieinander liegenden Löchern - man zählt bis zu 40.000 Löcher um einen Baum - kriechen die Larven aus dem Boden.

Die darauf folgende Verwandlung in zirpende Insekten, die Paarung, dann Eiablage und Tod dauern nur wenige Wochen. Danach schlüpfen aus den Eiern Larven, die sich im Boden vergraben und von Wurzelsaft ernähren, bis wieder 17 Jahre verstrichen sind.
Zikaden bei der Paarung
 
Bild: Lee Jenkins, Department of Entomology, University of Missouri

Pünktlich, laut und massenhaft
Bemerkenswert an diesen Tieren ist ihre Pünktlichkeit (die Prognosen liegen höchstens eine Woche daneben), ihre Lautstärke (bei 100 Dezibel hört man den Straßenverkehr nicht mehr), ihre Menge (einige Millionen Tiere pro Hektar) sowie das Rätsel ihrer massenhaften Vermehrung in Intervallen von 13 oder 17 Jahren.

Das massenhafte Auftreten der Zikaden kann evolutionsbiologisch so erklärt werden, dass potenzielle Räuber der Zikaden (beispielsweise Vögel oder Wespen) übersättigt werden, sodass immer genügend Zikaden überleben, um die Art zu erhalten.
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Zikaden
Zikaden sind weltweit mit mehr als 30.000 verschiedenen Arten vertreten - in Mitteleuropa sind etwa 700 bekannt. Die europäischen Zikaden sind meist klein, ausländische Arten können allerdings eine Länge von bis zu sieben Zentimetern erreichen.

Fast alle Zikaden ernähren sich pflanzlich. Mit ihren Saugrüsseln stechen sie Pflanzengewebe an und saugen den Pflanzensaft auf. Als Feinde gelten nicht nur Räuber wie etwa Vögel, sondern auch Parasitoide.

Die Insekten sind vor allem für ihren "Lärm" bekannt: Die Lautäußerungen werden durch eine Membran am vorderen Teil des Hinterleibes, die durch zwei starke Muskeln in Schwingungen versetzt wird, hervorgerufen. Der Hinterleib selbst dient als Resonanzkörper.
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Primzahlen als "Jäger-Beute-Rhythmus"
Die Vermehrung im Intervall von 13 oder 17 Jahren erklärt man ebenfalls mit Jäger-Beute-Beziehungen: Wäre die Zyklenlänge beispielsweise zwölf Jahre, so könnten die Zikaden von allen synchronisierten Räubern gefressen werden, die alle 1, 2, 3, 4, 6 und 12 Jahre erscheinen.

Mutieren die Zikaden jedoch in einen Zyklus von 13 Jahren, so sind nur noch die Arten, die jedes Jahr oder alle 13 Jahre auftreten, Fressfeinde. Im Allgemeinen sollten demnach Primzahlen für Vermehrungsintervalle bevorzugt sein.
Geografische Verbreitung der Zikaden in den USA
 
Karte: John Cooley, Department of Ecol. and Evol. Biol., University of Connecticut

Insgesamt existieren drei Zikadenarten, die in 13- oder 17-jährigen Zyklen auftreten. Blau gekennzeichnet sind die Gebiete, in denen Zikadenlarven alle 17 Jahre schlüpfen, Rosa zeigt den 13-jährigen Zyklus an.
Evolutionsmodell zeigt stabilen Räuber-Beute-Zyklus
Die nächstgrößere Primzahl nach der 13 ist die 17 - also genau die Zykluslänge der Zikaden im Verbreitungsgebiet im Nordosten der USA. Obwohl diese evolutionsbiologische Erklärung schon recht alt ist, gab es noch keine mathematische Modellierung der Evolution dieser Insekten.

Mario Markus und Oliver Schulz vom Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie und Eric Goles (Universidad de Chile) entwickelten jetzt ein Evolutionsmodell, das durch Mutation und Selektion von Räubern und Beuten Primzyklen der Beuten erzeugt.

Die deutsch-chilenische Forschergruppe konnte mathematisch zeigen, dass ein Primzyklus der Beute stabil gegenüber zyklenverändernden Mutationen von Räubern oder Beute ist, und dass ein Nicht-Primzyklus der Beute nach einer endlichen Zahl von Mutationen verändert wird.
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Räumliche Aspekte und Primzahl-Rekorde
Dann gingen die Forscher zwei Wege: Im ersten Weg betrachteten sie - neben der zeitlichen Entwicklung - auch die räumlichen Aspekte der Insektenvermehrung, indem sie die Wechselwirkung zwischen benachbarten Populationen berücksichtigten. Dabei erhielten sie - wie in der Natur - durch Selbstorganisation entstandene Territorien, in denen 13 und 17 Jahre als bevorzugte Zyklen vorkommen.

Im zweiten Weg kehrten sie der Natur den Rücken - und nahmen als Anfangsbedingungen Zyklen an, deren Länge bis an die Grenzen der Rechenkapazität reichten, auch wenn sie biologisch völlig unrealistisch waren. In solchen Fällen war die Simulation bei sehr hohen Primzahlen stabil, was zugleich heißt, dass das Modell sehr große Primzahlen erzeugt.
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Wer und wo ist der Jäger?
Das Einzigartige an der deutsch-chilenischen Arbeit ist, dass die Primzahlen mit einem biologischen Modell erzeugt werden. Das Evolutionsmodell verknüpft damit zum ersten Mal Zahlentheorie und biologische Modellierung.

In den biologischen Annahmen des Modells gibt es bisher noch Lücken, da der Jäger der Zikaden noch nicht gefunden wurde. Die Biologin Christine Simon von der Universität in Connecticut spekuliert etwa, dass eine ausgestorbene parasitische Wespe der Jäger gewesen sein könnte.

Kalifornische Wissenschaftler denken an den Pilz Massospora cicadina, der Zikaden befällt. Nach den Physikern und Informatikern sind jetzt wieder die Biologen an der Reihe, weiterzuforschen.
->   Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie
->   Universidad de Chile
 
 
 
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01.01.2010