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Ein Schrittmacher für die Zunge  
  Tumore oder ein Unfall können dazu führen, dass Betroffene ihre Zunge verlieren. Verschiedene Verfahren zur Rekonstruktion des komplexen Organs existieren bereits, doch die ursprüngliche Beweglichkeit lässt sich meist nicht mehr herstellen. Deutsche HNO-Spezialisten enwickeln derzeit eine Art Schrittmacher für die "neue Zunge" - mit elektrischen Impulsen soll die eingeschränkte Beweglichkeit des Organs verbessert werden.  
Erste Ergebnisse ihrer Forschungen stellen die Mediziner der Lübecker Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde jetzt beim Deutschen HNO-Kongress vom 8. - 12. Mai in Baden-Baden vor.
Die Zunge - ein komplexes Organ
Die Zunge ist ein komplexes Organ, das eine entscheidende Rolle beim Schlucken und Sprechen spielt: Fünf Hirnnerven und 26 Muskelgruppen sind notwendig, damit der Mensch koordiniert essen, trinken und sich im Gespräch verständlich ausdrücken kann.

Werden Zunge, Muskeln und Nerven in Folge einer Krebserkrankung oder eines Verkehrsunfall in Mitleidenschaft gezogen, drohen erhebliche Beeinträchtigungen. Bei fortgeschrittenen Tumoren muss die Zunge nicht selten vollständig entfernt werden - ohne funktionstüchtigen Ersatz kann sich der Patient dann nicht mehr selbständig ernähren.
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Zungenkrebs
Die Ursachen für einen Zungenkrebs sind vielfältig: Alkohol, Nikotin, schlechte Zahn- und Mundhygiene, Vitaminmangel und Umwelteinflüsse gelten als Hauptauslöser für eine bösartige Geschwulst im Mund- und Rachenbereich, von der jährlich rund 10.000 Menschen in Deutschland betroffen sind. Männer erkranken doppelt so häufig wie Frauen; betroffen sind vor allem über 50-Jährige.

Ein kleiner Tumor im vorderen, beweglichen Teil der Zunge kann mit dem Laser so entfernt werden, dass der Patient beschwerdefrei und geheilt die Klinik verlassen kann. Doch oft wird ein Tumor in der Mundhöhle erst spät erkannt, weil die Betroffenen den Warnzeichen - Blutungen im Mund, Schluckbeschwerden, eine "schwere", unbewegliche Zunge - zu lange keine Aufmerksamkeit schenken. Dann droht der Verlust des Organs.
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Verlegte Muskelstränge ersetzen Zunge
Zeichnung: Remmert, MUL
Der Muskellappen (braun), der bisher die Schilddrüse bedeckt hat, wird nach oben in den Rachen gezogen. Die Nervenstränge (gelb und blau) bleiben erhalten und müssen nicht durchtrennt werden.
In Lübeck werden als Zungentransplantat zwei Muskelstränge am Hals verwendet, die Kehlkopf und Schilddrüse bedecken. Bei dem komplizierten Eingriff wird zunächst der Unterkiefer aufgetrennt. Die beiden freigelegten Muskellappen werden nun von unten in den Mund gezogen und miteinander vernäht. Die noch fehlende Schleimhaut wird durch Haut vom Unterarm ersetzt.

Der Vorteil dieser Methode gegenüber herkömmlichen OP-Verfahren, bei denen Muskelpartien aus dem Brust- oder Rückenbereich eingepflanzt werden, liegt darin, dass keine Muskeln anderer Körperteile in den Mund implantiert werden müssen, sondern die im Halsbereich vorhandenen Stränge lediglich "verlegt" werden.

Die Nerven und Blutgefäße brauchen nicht durchtrennt zu werden und bleiben erhalten. "Somit kann die neue Zunge schneller und erfolgreicher ihre Arbeit aufnehmen als herkömmliche Transplantate", erläutert der Mediziner Stephan Remmert die Vorteile des von ihm entwickelten Verfahrens.
Dennoch: Eingeschränkte Beweglichkeit
Zwar beginnen 95 Prozent aller Patienten nach durchschnittlich 30 Tagen, wieder selbständig und ohne Nährsonde ihre Mahlzeiten zu sich zu nehmen, doch ist die für das Kauen und Schlucken erforderliche Beweglichkeit der neuen Zunge eingeschränkt.

"Die rekonstruierte Zunge führt in erster Linie passive Bewegungen aus, die durch Kontraktionen der umgebenden Mundboden-, Schlund- und Kaumuskulatur entstehen", so Remmert.

Dies reicht meist aus, um Speisen mit der Zunge gegen den Gaumen zu pressen. Von dort gelangen sie in den Rachenraum, wo der Schluckreflex ausgelöst wird. Verstärkt man jedoch diese von Zunge und Gaumen initiierte Stempelwirkung, erleichtert das die Verarbeitung der Nahrung erheblich.
Schrittmacher soll Reize verstärken
Hier setzt nun der Schrittmacher an: Er soll Reize des Zungennervs (Hypoglossus) - der bei der Entfernung des kranken Organs durchtrennt wurde, aber Untersuchungen der Lübecker Wissenschaftler zufolge dennoch Signale aussendet - auf die verlegte Halsmuskulatur übertragen und verstärken.
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Erschlaffende Muskeln, schrumpfende Zunge ...
Damit werden mehrere Ziele verfolgt: Zum einen wollen die Lübecker Mediziner damit drohenden Gewebeverlust aufhalten. Denn bei vielen Zungentransplantaten erschlaffen die Muskeln mit der Zeit, das Gewebe zieht sich zusammen. Dadurch schrumpft die Zunge; Nahrung kann nicht mehr kontrolliert im Mund gehalten werden, sondern rutscht direkt in den Rachen. Wird die Zungenmuskulatur nun durch verstärkte Nervenreize "trainiert", könnte der Gewebsverlust aufgehalten werden.

Die Funktionalität der neuen Zunge könnte zudem durch die elektrische Stimulation verbessert werden. Zum einen ist an eine effektivere Stempelwirkung, zum anderen an eine Rechts-Links-Bewegung der Zunge gedacht, mit der Nahrung zu den Zähnen geschoben werden kann.
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Reizmessung bei Hausschwein-Zungen
Im Tierversuch mit gewöhnlichen Hausschweinen wird derzeit untersucht, welche Signale von dem durchtrennten Zungennerv noch ausgehen. Der nur zwei Millimeter starke Hypoglossus wird dazu mit speziellen Elektroden ummantelt; die Reize können von außen gemessen werden. Später sollen die Reize per Kabel auf die rekonstruierte Zunge übertragen werden.

Eins zu Eins auf den Menschen übertragen lassen sich die Ergebnisse allerdings nicht, obwohl die Anatomie im Mund-Rachen-Bereich ähnlich ist. Bis zur Verwirklichung des von der Deutschen Krebshilfe geförderten Projekts werden daher noch mehrere Jahre vergehen.
Ausblicke auf die Zukunft
Dabei ist der Bau des Schrittmachers das kleinste Problem, wie Gehrking versichert: Die Kardiologie biete bereits ausgefeilte Technik. Der Zungenschrittmacher könne dann, ähnlich wie sein Pendant fürs Herz, unter dem Schlüsselbein eingesetzt und per Kabel mit dem Muskel verbunden werden.

Langfristig eröffnen sich weitere Indikationen im HNO-Bereich: Per Schrittmacher könnten dann auch Gesichtsnervenlähmungen (etwa beim unvollständigen Augen- oder Mundschluss) ausgeglichen werden

"Das ist jedoch noch Zukunftsmusik", so Gehrking, "zur Verwirklichung solcher Ziele sind größere Forschergruppen und eine intensivere Förderung notwendig. Und darauf kann man in Zeiten knapper Kassen wohl nur hoffen."
->   Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde in Lübeck
 
 
 
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01.01.2010