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Beispiel Sehsystem: Das Gehirn lernt nie aus  
  Noch vor einigen Jahren glaubten Wissenschaftler, dass die Nervenzellen, die für Bewegung und Wahrnehmung verantwortlich sind, im erwachsenen Gehirn unveränderlich miteinander vernetzt seien. Inzwischen zeigt sich aber, dass sich die Organisation und Funktion unseres Gehirns lebenslang an äußere oder krankheitsbedingte Veränderungen anpasst - wie nun erneut, am Beispiel des Sehsystems, erwiesen wurde.  
Ben Godde vom Institut für Medizinische Psychologie der Universität Tübingen und Hubert Dinse vom Institut für Neuroinformatik der Ruhr-Universität Bochum haben zusammen mit zwei weiteren Kollegen im Tierversuch gezeigt, dass sich das Sehsystem im erwachsenen Gehirn durch Lernprozesse in der Grundstruktur verändert.
Elektrostimulation und Videobeobachtung
Ihre durch die Kombination von Elektrostimulation der Gehirnzellen und Videobeobachtung des Blutflusses im Gehirn ermittelten Ergebnisse stellen die Forscher im US-Fachmagazin Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) vor.
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"Plasticity of orientation preference maps"
Der Artikel "Plasticity of orientation preference maps in the visual cortex of adult cats" ist erschienen in den PNAS, Bd. 99 (9), Seiten 6352-6357, vom 30. April 2002.
->   PNAS
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Hirnrinde verändert sich - bis ins hohe Alter
Gebrauch, Training und Lernen verändern unsere motorischen Leistungen und Wahrnehmungsfähigkeiten. Bei diesen Vorgängen verändert sich auch die Hirnrinde bis ins hohe Alter.

Die Sehrinde - der Ort, an dem visuelle Reize wahrgenommen, gespeichert und sinnvoll zugeordnet werden - befindet sich im hinteren Teil des Großhirns. Um im Sehsystem Lernvorgänge auszulösen, stimulierten die Forscher über eine Mikroelektrode die Gehirn-Nervenzellen von narkotisierten Tieren mit winzigen Strömen.
Reizübertragung dauerhaft verändert
Diese Ströme aktivieren in einem sehr kleinen Bereich des Hirngewebes viele Nervenzellen gleichzeitig. Dadurch verändert sich die Reizübertragung zwischen den Nervenzellen zunächst nur für wenige Sekunden, bei wiederholter, gleichzeitiger Aktivierung jedoch dauerhaft.
Systematische Karten für das Gesichtsfeld
Die für das Sehen verantwortlichen Hirnbereiche höherer Säugetiere repräsentieren das Gesichtsfeld systematisch - wie eine Landkarte. Benachbarte Nervenzellen stellen benachbarte Orte im Gesichtsfeld dar.

Dabei überlagern sich im Gehirn verschiedene so genannte funktionelle Karten, die bestimmte Eigenschaften der gesehenen Objekte wie Orientierung, Bewegungsrichtung und Kontrast repräsentieren. Das am besten untersuchte Beispiel sind die Orientierungskarten.
Durchblutung zeigt Aktivierung
Bei der experimentellen Untersuchung solcher Karten nutzen die beiden Wissenschaftler den Zusammenhang zwischen der Aktivität der Nervenzellen und ihrem Energieverbrauch. Werden bestimmte Hirnbereiche aktiviert, ändert sich dort die Durchblutung, um den erhöhten Sauerstoffverbrauch zu decken.

Die mit diesen Vorgängen verbundenen winzigen Änderungen in der Helligkeit des Hirngewebes können die Forscher mit hochempfindlichen Videokameras direkt messen.
Viele Reize in einer Karte
Nach computergestützter Auswertung lässt sich aus den Messergebnissen über einen Bereich von mehreren Millimetern errechnen und darstellen, welche Nervenzellen durch einen bestimmten Reiz erregt worden sind.

Führt man dies für viele unterschiedliche Reize durch und stellt die Ergebnisse in einer gemeinsamen Karte dar, entsteht ein umfassendes Bild der Orientierungskarte im Gehirn.
Wenige Stunden reichen aus
Die Hirnforscher stellten fest, dass die Orientierungskarten ihre Grundstruktur bereits nach wenigen Stunden der Stimulation verändern. Betroffen sind davon Bereiche von mehreren Millimetern, obwohl die elektrischen Reize auf weniger als einen Zehntel Millimeter beschränkt waren.

Die Ursache für diese weitreichenden Auswirkungen vermuten die Wissenschaftler im Bauprinzip der bei höheren Säugetieren und dem Menschen besonders ausgeprägten Hirnrinde. Hier findet sich ein dichtes und sehr verzweigtes Netzwerk horizontaler Nervenfasern, die sich über viele Millimeter erstrecken können.
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Reize ohne "Bedeutung"
Die Forscher gehen davon aus, dass die Fasern bei der Reizverarbeitung eine wichtige Rolle spielen. Diese Veränderungen wurden nicht durch Training ausgelöst, sondern durch elektrische Stimulation, deren Reize keinerlei "Bedeutung" besitzen. Offenbar kommen durch die Elektrostimulation Selbstorganisationsprozesse in Gang, die zu bestimmten, geordneten Veränderungen führten.
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Unterscheidung von anderen Hirnbereichen
Als besonders interessant bezeichnen die Experten, dass sich die Veränderungen im visuellen System in mehreren Eigenschaften von denen in anderen Gehirnbereichen unterscheiden, die ebenfalls durch Elektrostimulation verändert werden können.

In der Sehrinde wirken sich die Effekte räumlich erheblich weiter aus und sind nicht vollständig rückgängig zu machen. Dies könnte darauf hindeuten, so die Forscher, dass die Sehrinde zwar veränderbar ist, sich aber in der Ausbildung dieser Eigenschaft von anderen Hirnbereichen unterscheidet.
Verletzungen als Lernprozess
Auch krankhafte Veränderungen des Gehirns, zum Beispiel als Folge von Verletzungen, können als Lernprozesse aufgefasst werden und führen dazu, dass sich die betroffenen Hirnbereiche neu organisieren.

Das Verständnis dieser Mechanismen halten die Forscher für besonders bedeutsam, da es Hinweise gibt, wie sich das Zentralnervensystem nach einer Schädigung regeneriert.

Die neuen Forschungen könnten als Basis für Untersuchungen bei Patienten dienen, die durch Verletzung der Augen oder der Sehrinde erblindet sind. Möglicherweise ließen sich in Zukunft auf dieser Grundlage auch neue Therapieansätze für Rehabilitationsmaßnahmen entwickeln.
->   Institut für Medizinische Psychologie der Universität Tübingen
->   Institut für Neuroinformatik der Ruhr-Universität Bochum
 
 
 
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01.01.2010