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Bildung heute - Haben Lehrer keinen Auftrag?  
  Bildungskonzepte und Lehrpläne kommen heutzutage nicht umhin, sich den Anforderungen des Beschäftigungssystems zu stellen. Angesichts der Ansprüche seitens der Wirtschaft wie auch der Vehemenz und Geschwindigkeit, mit der entsprechende Reformen im Bildungswesen umgesetzt werden, stellt sich auch für die Erziehungswissenschaft die Frage nach ihrer Positionierung. Damit stehen das Verhältnis von Bildung und Ausbildung, aber auch die pädagogische Grundkategorie "Mündigkeit" erneut zur Debatte.  
Anlässlich des 37. internationalen Symposions "Bildung - Vernunft -Gesellschaft" in Salzburg wurden künftige Bildungsanforderungen wie auch bildungspraktische und -theoretische Problemlagen diskutiert.
Kritik an der "Kopplungsbereitschaft" des Bildungssystems
So problematisiert Ines Breinbauer vom Institut für Erziehungswissenschaft in Wien die mittlerweile selbstverständlich gewordene Kopplungsbereitschaft des Bildungssystems an das Beschäftigungssystem und gibt unter anderem zu bedenken, dass diese Kopplung weder dauerhaft noch verlässlich sein kann.

Zudem konstatiert die Erziehungswissenschaftlerin eine fragwürdige Dominanz des Konkurrenzprinzips. Dieses schlage sich ungeachtet seiner problematischen Aspekte auf das Bildungssystem durch und führe zur Aufgabe eines jeden Anspruchs, Schule, Aus- und Weiterbildung an anderen Zielen auszurichten, als an denen der Verwertbarkeit.
Bildung in der "Diktion der Modularisierung"
Identifizieren lasse sich diese Kopplungsbereitschaft am Beispiel der "Diktion der Modularisierung", die in das öffentliche Bildungssystem einsickert und dort die neuen Zeitmuster der permanenten Modernisierung und Beschleunigung einführt.

"Kurzstudien, flexible offene Lehrgangskonzepte und möglichst arbeitsplatznahe Ausbildung sind Ausdruck der selbstverständlichen Kopplungsbereitschaft des Bildungssystems, das sich gleichzeitig nicht mehr in der Lage oder verpflichtet sieht, nachhaltige Bildung anzubieten", betont Breinbauer.
"Lebenslanges Lernen": Ausdruck von Ohnmacht?
Diese Unfähigkeit, möglicherweise auch Ohnmacht, sieht die Erziehungswissenschaftlerin - nicht zuletzt dank der Argumentationshilfe der Pädagogen - im Erfordernis des "lebensbegleitenden Lernens" formuliert.

Tatsächlich gibt es aber zahlreiche Bedenken gegen die auch von der Europäischen Union immer wieder eingeforderte Ausrichtung des gesamten Ausbildungssystems an das Beschäftigungssystem.
Längerfristige Planung kaum möglich
So gebe es beispielsweise kaum mehr Unternehmen, die ihre konkrete Betriebsplanung über einen länger als zweijährigen Zeitraum vornehmen. Damit seien berufsqualifizierende Ausbildungen, wie etwa die Lehrlingsausbildung, mit einem hohen Unsicherheitsfaktor verbunden - für das Unternehmen wie für den Einzelnen.

Einen weiteren Grund, gegen die Denkfigur der Kopplung Einspruch einzulegen, leitet Breinbauer aus Studien ab, die deutlich belegen, dass in manchen Branchen schlicht kein genereller Qualifizierungsbedarf ermittelt werden kann.

Da jedoch diese Kopplung nicht in Frage gestellt wird, sich letztlich aber weder als dauerhaft noch verlässlich erweise, werde sie dem Einzelnen als permanente Bildungs- bzw. Lernaufgabe übertragen: "Der Einzelne hat lebenslänglich für seine 'Employability' zu sorgen", konstatiert Breinbauer.
->   Institut für Erziehungswissenschaften
Nach Unabhängigkeit streben
Auch der Kant'sche Aufklärungsappell, nach Unabhängigkeit von fremder Leitung zu streben - "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!"-, erfährt vor dem Hintergrund der aktuellen bildungspolitischen Situation eine brisante Wendung.

Für Jörg Ruhloff, Erziehungswissenschaftler an der Universität Wuppertal, gibt es "Anlass, zum Zweifel an der Stärke, in der der Leitungsanspruch der Vernunft in der Pädagogik ausgeprägt ist."
Kein Anspruch auf Souveränität
Unsere Vernunft sei kein eigenmächtiges Vermögen. Man würde sie missverstehen, wenn man darin einen Anspruch auf die Leitung des menschlichen Lebens als Souveränität, als eingeschränktes Hoheitsrecht deuten würde.

Der Vernunftgebrauch sei vielmehr etwa von sozialen Konstellationen und biographischen Erfahrungszusammenhängen abhängig.
Erfahrene versus mögliche Bestimmung
Ruhloff betont in diesem Zusammenhang den "wesentlichen Problempunkt" der Vernunft, der sich aus der Verschränkung von "gegebener, erfahrener Bestimmtheit und angestrebter Bestimmungsmöglichkeit" ergibt.

Diese Art der Verschränkung ist demnach wesentlich, denn die Vernunft kann sich weder der gemachten Erfahrungen entziehen, noch kann sie sich auf das bloße Hören auf Erfahrung beziehen, da "das Hören auf Erfahrungen leicht in Hörigkeit umschlagen kann".
In Abhängigkeit Unabhängigkeit suchen
Diesen Einwänden könne man sich kaum entziehen, meint der Wissenschaftler und definiert mit Verweis auf die notwendige Verschränkung die Vernunft "als das Vermögen, in Abhängigkeiten Unabhängigkeiten zu suchen." Anders formuliert, wir könnten nunmehr nach "relationalen Unabhängigkeiten streben".
"Vernünftige Kritik"
Deshalb vertritt Ruhloff eine vernünftige Kritik, deren Aufgabe darin besteht, die Grenze zwischen berechtigter beziehungsweise unvermeidlicher Abhängigkeit einerseits und relativ unabhängigen Handlungsmöglichkeiten anderseits zu ermitteln.

Dabei hat jedoch die Idee eines "Allgemeinen" maßgeblich zu bleiben. In dieser müssen jedoch Individuen ihren Platz finden können. Das heißt, "sich weder mit dem Allgemeinen identifizieren noch durch Allgemeinheitsprojektionen mediatisiert werden".
Grenze "privat" und "öffentlich" verwischt
So verwischt heute die Grenze zwischen privat und öffentlich in einem bestimmten Sinne: "Mehr oder weniger alles Private und Partikulare wird ohne Übersetzungsanstrengung, ohne die problematisierende Kontrolle der Frage, was allgemein anerkannt werden könnte, als öffentlich und zugleich allgemein Relevante erachtet", kritisiert Ruhloff.

Für die Pädagogik hänge daher das Festhalten an Aufklärung und Vernunftkritik sowie deren Stärke davon ab, inwieweit es gelingt, die Differenz zwischen privat zu besetzender und dialogisch-kommunikativ zu ermittelnder Allgemeinheit ins Bewusstsein zu rücken und in Erfahrung zu bringen.

Agnieszka Dzierzbicka, science.ORF.at
->   Fachbereich Erziehungswissenschaft, Wuppertal
->   Werner Lenz in science.ORF.at: Mehr Qualitätskontrolle für Weiterbildung
 
 
 
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01.01.2010