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Fußball: Wie ein englisches Spiel die Welt eroberte  
  Am 31. Mai begann die Fußball-WM in Japan und Südkorea - in den kommenden Wochen scheint sich alles um das Spiel mit dem runden Leder zu drehen. Worin aber liegt die Faszination dieses Sports? Und wie konnte es dazu kommen, dass eine Erfindung aus dem England des 19. Jahrhundertes bis heute eine derartige globale Begeisterung auslösen kann? Ein Vortrag auf der Uni Wien versuchte dem Phänomen nachzugehen.  
Es begann als gewalttätiges Volksspiel
Vorgänger gibt es fast in der ganzen Welt: In Italien, China und Persien, überall finden sich Vorformen des modernen Fußballs. Seine echte Wiege aber liegt in England, wo es mindestens seit dem 14. Jahrhundert als wildes, ausgeprägt gewalttätiges und von den Behörden immer wieder verfolgtes Volksspiel galt.

So gut wie ohne jegliche Reglementierung ging es zwischen verschiedenen Gruppierungen - oft den Bewohnern zweier Dörfer- darum, einen ballähnlichen Gegenstand an einen bestimmten Platz zu bringen.
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Teil einer Ringvorlesung der Uni Wien
Gertrud Pfister, Professorin für Sportwissenschaft an der Universität Kopenhagen, sprach im Rahmen der Ringvorlesung "Global Players. Ökonomie, Politik und Kultur des Fußballs" im März dieses Jahres an der Universität Wien zum Thema "Wem gehört der Fußball - Wie ein englisches Spiel die Welt eroberte". science.ORF.at bringt in diesem Artikel eine Zusammenfassung des Vortrags, weitere Berichte folgen in den nächsten Tagen.
->   Forum for the Analysis of Sport Technology, Uni Kopenhagen
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Das Spiel diszipliniert und wird diszipliniert
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird der Fußball immer öfter an den - nichtöffentlichen - Public Schools gespielt. Und diszipliniert dabei nicht nur die Schüler, sondern wird auch selbst diszipliniert. Regeln werden festgeschrieben, wodurch es unter anderem bis zur heute gültigen Aufspaltung in Fußball (Soccer) und Rugby kommt.

Nicht mehr Gewalt steht im Mittelpunkt des Spiels, sondern Fair Play. Was als Spiel der Oberschicht begann, wird zunehmend von den Arbeitern favorisiert.
Weltweiter Exportschlager
Der Fußball erweist sich beinahe weltweit als Exportschlager. Überall da, wo Briten dank ihres Empires und darüber hinaus hinkommen, oder wo Englandreisende ihre Liebe zu dem Sport entdeckten, entstanden die ersten Fußballvereine: in Le Havre, in Götheborg, Genua oder Buenos Aires.
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Charakteristika des englischen Sports
Das Modell des englischen Sports, das sich weltweit ausbreitet, umfasst Charakteristika wie formale Chancengleichheit aller Teilnehmer, Logik des Wettkampfs, abstrakten Leistungsvergleich, Orientierung auf Rekorde.

Daraus resultierten Phänomene wie eine zunehmende Spezialisierung und Professionalisierung der Athleten, eine Quantifizierung der Leistungen und eine Bürokratisierung des Sports als solchen.
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Nordamerika bis heute Fußballfieber-frei
Besonders beliebt in Europa und Südamerika, blieb einzig Nordamerika dank eigenständiger Sportentwicklungen bis heute vom Fußballfieber "verschont". In Afrika erlebte der Fußball erst in den Zeiten des Postkolonialismus nach dem Zweiten Weltkrieg seine Blüte.
Möglichkeit nationaler Repräsentation
Wenn man die Entwicklungsgeschichte des Fußballs in den verschiedenen Ländern vergleicht, so gibt es eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Ebenso zahlreich sind aber auch die Unterschiede, was die Aneignung des Sports durch verschiedene Schichten, den Grad der Professionalisierung, den Stil oder die Interpretation des Fußballs betrifft.

Als ein "Motor der Zivilisierung" (Norbert Elias) bietet das Spiel eine besonders populäre Möglichkeit nationaler Repräsentation.
Fußball als Erinnerungsort
Als Erklärungsansatz für die Popularität des Spiels mit dem runden Leder führte die Sportwissenschaftlerin Pfister auch den zuletzt unter Historikern viel diskutierten Begriff des "Erinnerungsortes" an.
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Die Orte der Erinnerung
"Les Lieux de mémoire" ("Die Orte der Erinnerung") ist ein zwischen 1984 und 1993 entstandener Sammelband, in dem rund hundert französische Fachleute die Geschichte Frankreichs zu fassen versucht haben. Gleichgültig ob Gebäude, Gebräuche oder Ereignisse, diese "Erinnerungsorte", die sich nicht immer geografisch genau lokalisieren lassen, stellen in den Worten des Herausgebers Pierre Nora "ein Instrument für das Begreifen von Geschichte dar". Mit "Deutsche Erinnerungsorte" haben die beiden Historiker Etienne François und Hagen Schulze jüngst ein deutsches Pendant geschaffen.
->   NZZ-Buchrezension über die "Deutschen Erinnerungsorte"
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Permanente Rekonstruktion der Vergangenheit
Kulturen rekonstruieren permanent Vergangenheit und nehmen dabei selektiv gewisse Erinnerungen in ihr kollektives Gedächtnis auf. Dazu gehören nicht nur Ereignisse der so genannten Hochkultur, sondern auch jene der Alltagskultur.
Erinnerungsort Cordoba, 3:2 gegen Deutschland
In Österreich etwa bleibt nicht nur der Abschluss des Staatsvertrags 1955 in Erinnerung, sondern auch herausragende Sportereignisse - etwa das 3:2 von Cordoba, als Deutschland bei der WM 1978 besiegt werden konnte.

Der "Erinnerungsort" dieses Fußballspiels trägt bis heute zum nationalen Selbstverständnis des Landes bei. Er wird - etwa durch einen kürzlich produzierten Werbefilm für Zucker, in dem der zweifache Cordoba-Torschütze Hans Krankl noch einmal die unvergesslichen Bilder Revue passieren ließ - von einer Generation an die nächste weitergegeben.

Durch die emotionale Verknüpfung des persönlichen Gedächtnisses mit dem überindividuellen wird "Nation" kontinuierlich produziert. Massenmedien - wie z.B. science.ORF.at - tragen zur Herstellung dieser und anderer Mythen bei.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at
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Zu der Veranstaltung sind zwei Bücher erschienen:

Michael Fanizadeh, Gerald Hödl and Wolfram Manzenreiter (Hg.): Global Players. Kultur, Ökonomie und Politik des Fußballs. Frankfurt/Wien: Brandes&Apsel/Südwind 2002. ISBN 3-86099-236-8

John Horne und Wolfram Manzenreiter (Hg.): Japan, Korea and the 2002 World Cup. London: Routledge 2002. Pb ISBN 0-415-27563-6
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->   History of the Game (FIFA)
->   History of Soccer
->   Futbolero: The Academic Soccer Site
 
 
 
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01.01.2010