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Gewalt in der Schule  
  Seit Beginn der 90-er Jahre hat das Thema Gewalt in der Schule stark an Bedeutung gewonnen. Spektakuläre Medienberichte veranlassten zu einer breiten öffentlichen Debatte und zeigten den Bedarf an Forschungsergebnissen auf. Auch das jüngste tragische Geschehen in Erfurt wirft zwangsläufig die Frage auf: Was kann man gegen Gewalt tun? Die Psychologinnen Moira Atria und Christiane Spiel stellen Ergebnisse ihrer Untersuchungen in einem Gastbeitrag für sience.ORF.at vor. Am kommenden Montag findet dazu eine ScienceWeek-Podiumsdiskusion statt.  
Gewalt in der Schule: Erscheinungsformen, Ursachen und Prävention
Von Moira Atria und Christiane Spiel

Zur Frage, ob Gewalt innerhalb der letzten Jahre angestiegen sei, liegen unterschiedliche Befunde vor. Um zu einer eindeutigen Antwort zu kommen, müsste man über repräsentative Langzeituntersuchungen verfügen; diese liegen aber nicht vor. Wissenschafter sehen aber einen "qualitativen" Wandel: Während die Gesellschaft heute insgesamt sensibler gegenüber Gewalt reagiert, scheinen einzelne jugendliche Gewalttäter brutaler als früher vorzugehen.
Gewalt ist ein soziales und ein individuelles Phänomen
Bei Gewalt (Aggression) im Jugendalter handelt es sich einerseits um ein Gruppenphänomen (z.B. Gewalthandlungen werden in einer Gruppe durchgeführt), andererseits um ein individuelles Phänomen (Einzeltäter, deren massive Handlungen für ihre Umwelt völlig unerwartet kommen).
Formen der Gewalt in der Schule als soziales Phänomen
Innerhalb der Fachliteratur werden folgende Formen unterschieden: physische Aggression (z.B. schlagen), psychische Aggression (z.B. gezielte Ausgrenzung), verbale Aggression (z.B. Beschimpfungen) und Vandalismus (Sachbeschädigung).

Burschen sind öfter in Gewalthandlungen involviert und wenden eher physische Gewalt und Vandalismus an. Mädchen setzen eher psychische Aggression ein.
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"Bullying"
Das Fachwort für aggressives Verhalten zwischen Schülern ist "Bullying". Abhängig von den jeweiligen Handlungen und Wahrnehmungen unterscheidet man verschiedene Schülertypen: Die "Täter" ("Bullies") sind jene Schüler(innen), die regelmäßig an andere "austeilen" (3%-16%). Die "Opfer" sind jene Schüler(innen), die unter den Aggressionen ihrer Mitschüler leiden (3%-16%). Es gibt auch Schüler und Schülerinnen, die sowohl "austeilen" als auch "einstecken" (8%-25%).
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Ursachenforschung
Die Ursachen für Gewalt sind vielschichtig. Persönlichkeitsfaktoren spielen eine wesentliche Rolle: "Täter" beispielsweise nehmen i.A. ihre Umgebung verzerrt wahr und fassen "neutrale" Situationen bereits als "provozierend" auf. Ein großer Teil der "Täter" zeigt ein sehr schwankendes Selbstwertgefühl (von massiv übersteigert bis sehr niedrig).

Aber auch das familiäre Umfeld ist wichtig: Mangel an emotionaler Wärme, inkonsistentes Erziehungsverhalten sowie elterliche Aggressionen wirken gewaltfördernd. Bei älteren Schülern ist die Peergruppe ebenfalls miterziehend. Auch situative Faktoren spielen eine wesentliche Rolle.
Nur ein Problem zwischen den Schülern?
Das Forschungsinteresse galt bisher v.a. den Aggressionshandlungen von Schülern, Aggressionen zwischen Lehrern und Schülern wurden kaum wissenschaftlich untersucht.

Dieses Fehlen ist u.a. darauf zurückzuführen, dass Studien im Schulkontext nur dann durchgeführt werden können, wenn sie von den Schulverantwortlichen (Schulbehörden, Direktoren, Lehrer) befürwortet und unterstützt werden.
Warum man in der Schule ansetzen muss
Dem Schulklima kommt eine zentrale Bedeutung zu, denn schulische Bedingungen können sowohl aggressionsauslösend als auch aggressionshemmend wirken: Aggressionsfördernd sind ein negatives soziales und emotionales Klima, Anonymität und Isolierung sowie das Vorherrschen von reaktivem und restriktivem Verhalten. Extreme Reglementierung wirkt sich ebenso negativ aus wie Regellosigkeit und Inkonsequenz.

Aggressionshemmende "Bedingungen" sind engagierte Schulleiter(innen) und Lehrer(innen), die ihre Schüler(innen) wertschätzen; ebenso die Integration und Mitsprache aller am Schulleben Beteiligten, klare Grenzen und Freiräume sowie die Öffnung der Schule nach Außen. Gerade am sozialen Phänomen der Gewalt kann und soll die Schule ansetzen.
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Gezielte Gewaltprävention hilft Lehrern und Schülern
Eine gezielte Gewaltprävention hilft sowohl Schülern als auch Lehrern, besser mit Konfliktsituationen umzugehen. Im Idealfall werden schulische Präventionsinitiativen in Kooperation mit universitären Einrichtungen durchgeführt. Diese Zusammenarbeit gewährleistet, dass:
- das jeweilige Präventionsprogramm dem aktuellen Stand der Wissenschaft entspricht,
- die Durchführenden über genügend Know-how und Unterstützung verfügen,
- die Initiative von möglichst allen Beteiligten mitgetragen wird,
- die praktische Umsetzung vor Ort funktioniert,
- das jeweilige Programm auf seine Einsetzbarkeit geprüft und optimiert wird.

Tatsächlich gibt es eine große Anzahl von bereits erprobten Programmen Auch hier gilt, dass viele Wege zum Erfolg führen - viele aber nicht alle. Daher ist es notwendig, dass der Einsatz von Programmen auch wissenschaftlich evaluiert wird. (Wurden die Ziele erreicht? Wo sind Schwierigkeiten aufgetreten? Wie lässt sich das Programm verbessern?).
->   Connect-Initiative
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Das "Wiener Soziale Kompetenztraining"
Das Wiener Soziale Kompetenztraining wurde am Institut für Psychologie (Univ. Wien) entwickelt. Das Training basiert auf Erkenntnissen der Sozialen Informationsverarbeitungstheorie und Gruppenpsychologie. Grundprinzipien des Programms sind:

1. Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten: Jugendliche verhalten sich dann aggressiv, wenn sie über keine geeigneten Strategien verfügen, mit Konfliktsituationen umzugehen. Eine gezielte Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeiten soll helfen, das Auftreten von Aggressionen zu senken.

2. Partizipation: Wie bereits erwähnt erfüllen auch scheinbar Unbeteiligte bestimmte Rollen, in dem sie z.B. die "Täter" unterstützen oder dem "Opfer" Hilfe leisten. Die Auseinandersetzung mit dieser Rollenübernahme führt bei Jugendlichen zu einer Stärkung der sozialen Verantwortung.
Möglichkeiten zu reagieren
Im Training erfahren Jugendliche, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, auf schwierige oder auch nur mehrdeutige Situationen zu reagieren. Die prozessbegleitende Evaluation gilt als ein integraler Bestandteil des Programms. Sie enthält eine mehrmalige Untersuchungen der Schüler(innen), eine kontinuierliche Befragung der Lehrer(innen) sowie Videoaufzeichnungen.
Ergebnisse einer Pilotstudie
In einer Pilotstudie wurde das Programm in einer Wiener Berufsbildenden Mittleren Schule erprobt; Parallelklassen dienten als Kontrollgruppe. Nach dem Training berichteten die trainierten Jugendlichen über weniger Gewalthandlungen, als die Jugendlichen der Kontrollklassen.

Aber nicht nur die Schüler(innen) profitierten vom Training: Auch die Lehrer(innen) schätzten das Sozialverhalten der trainierten Jugendlichen als besser ein als das der anderen Mitschüler(innen).
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Podiumsdiskussion in der ScienceWeek
Das Thema "Gewalt in der Schule - Erscheinungsformen, Ursachen, Prävention" wird am 10.6. in einer ScienceWeek-Podiumsdiskussion im RadioCafe erörtert.
(Argentinierstrasse 30 A, Beginn: 17.00 Uhr)

Es diskutieren:

Univ.Prof. Christiane Spiel, Leiterin des Arbeitsbereichs Bildungspsychologie&Evaluation, Inst.f. Psychologie d. Univ. Wien
SC Dr. Heinz Gruber, Sektion V, "Lehrer und Erzieherbildung", bm:bwk
Kurt Kremzar, Vors.d. Verbandes der Elternvereine an Pflichtschulen
Dr. Susanne Brandsteidl, Präsidentin des Wiener Stadtschulrates
Mag. Moira Atria, Inst.f. Psychologie, Wien, AB Bildungspsychologie & Evaluation

Mag. Christian Szabady, Rat auf Draht, präsentiert Beispiele aus der Praxis
Moderation: Martin Bernhofer, Ö1-Wissenschaftsredaktion

Eine Veranstaltung des AB Bildungspsychologie & Evaluation des Insitituts für Psychologie der Universität Wien und der Wissenschaftsredaktion der ORF- Radios.

Anmeldungen:
e-mail: stefan.stieger@univie.ac.at
Fax: 42 77 478 79
->   ScienceWeek
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01.01.2010