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Atomterror: Forscher entwerfen Schreckensszenarien  
  Wie groß ist die Gefahr, wenn Terroristen beschließen, ein Atomkraftwerk anzugreifen? Eine internationale Forschergruppe befasst sich mit Fragen wie diesen und schlüpft dabei selbst in die Rolle von Menschen, die sich die allerschlimmsten Terrortaten ausdenken. Die Visionen dieser Forscher lassen an Schrecklichkeit nichts zu wünschen übrig - denn Terrorangriffe, bei denen radioaktive Strahlung eine Rolle spielt, sind auf vielerlei Arten möglich.  
San Onofre in Kalifornien: Die Gegend ist bekannt als Surferparadies und Erholungslandschaft- und als Standort eines Atomkraftwerks, nicht allzu weit entfernt von der Millionenstadt Los Angeles.
Verstärkte Sicherheitsmaßnahmen in San Onofre
San Onofre präsentiert sich gerne als Musterbetrieb, mit vielfältigen Sicherheitsmaßnahmen, auch gegen allfälligen Terror, und mit neuen Konsequenzen aus den Erfahrungen vom 11. September.

Presseprecher Ray Golden verweist auf verstärkte Patrouillengänge innerhalb und außerhalb der Anlage, auf intensivere Zusammenarbeit mit den Behörden. Und dann fügt er noch eine Besonderheit hinzu, die nur auf San Onofre zutrifft:

"Wir befinden uns hier auf dem Gelände einer Militärbasis", sagt Golden. "Auf der anderen Seite des Hügels sind 40.000 Marineinfanteristen mit ihren Waffen, die wir zu Hilfe holen können, das macht uns vielleicht sicherer als andere Atomkraftwerke."
Szenarien für den Ernstfall
Aber nicht weit von San Onofre entfernt, an der Universität Stanford, arbeitet eine internationale Forschergruppe, deren Aufgabe es ist, diese zur Schau getragene Zuversicht kräftig zu erschüttern.

Die Gruppe, geleitet vom Österreichischen Physiker und Risikoforscher Fritz Steinhäusler, arbeitet im Auftrag von Regierung und Industrie an Szenarien für den schlimmstmöglichen Risikofall.
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Testfall New Mexico
Was passiert zum Beispiel, wenn ein Jet in einen Atomreaktor kracht? Die Sandia National Labs haben diesen Fall vor Jahren in der Wüste von New Mexico simuliert. Das Flugzeug zerschellte, die Betonwand blieb heil. Aber getestet hat man das nur mit einem Kampfflugzeug, nie mit einem Jumbojet, der, wie man jetzt weiß, als Terrorwaffe dienen kann.
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Skepsis bei den Wissenschaftlern
Steinhäusler ist höchst skeptisch, ob ein Atomkraftwerk einem Anschlag vom Format des 11. September standhalten könnte: "Ein vollgetanktes Flugzeug vom Typ Airbus 300 oder Boeing 767 führt beim Aufprall zu einer Energiefreisetzung, die im Extremfall einer taktischen Nuklearwaffe entsprechen kann", sagt Steinhäusler.
Lastwagen voller Sprengstoff?
Selbst die Betreiber von Atomkraftwerken geben zu, dass sie ihre Werke gegen einen derartigen Anschlag nicht ausreichend schützen können. Aber das ist noch lange nicht schlimm genug. Denn man braucht eigentlich kein Flugzeug für einen derartigen Anschlag, eine normaler Lastwagen, beladen mit normalem Sprengstoff, könnte schon reichen.

Es käme nur darauf an, die richtige Stelle zu finden, sagt Professor Steinhäusler. Möglich wäre das bei einer Reihe von Atomkraftwerken auch von der Außenseite her, nämlich dann, wenn ein Täter eine Autobombe direkt am Sicherheitszaum parkt.

"Wenn man das an der richtigen Stelle macht - und Sie werden verstehen, dass ich darüber keine detaillierten Auskünfte geben kann", erklärt Steinhäusler, "könnten vitale Gebiete eines Atomkraftwerkes so betroffen werden, dass es zu einer signifikanten Gefährdung des Normalbetriebes kommen würde."
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Neue Alarmpläne für US-Atomkrafwerke?
Die Studien der Gruppe aus Stanford beginnen schon Wirkung zu zeigen. An allen 103 Atomkraftwerken der USA wird erwogen, den Sicherheitsbereich zu erweitern, die Werke noch stärker als bisher von außen abzuschotten. Auch die Alarmpläne werden aufs neue überprüft, mit ihren Warn- und Evakuierungskonzepten bis hin zum größten anzunehmenden Unfall- oder Anschlag.
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Schreckensszenarien
Die Pessimisten aus Stanford rechnen mit bis zu 130.000 Toten im weiteren Umkreis, für den Fall, dass das Atomkraftwerk San Onofre zum Terroristenziel werden sollte und die Radioaktivität Los Angeles erreicht.

Und auch damit der Schreckensszenarien noch lange nicht genug: Es gibt Modellrechungen für New York, für den Fall, dass es Terroristen dort eine so genannte schmutzige Bombe zünden.

Das ist keine echte Atombombe, sondern ein gewöhnlicher Sprengsatz, mit radioaktivem Material vermischt. Manhattan könnte so stark mit Strahlung verseucht werden, dass man ganze Stadtteile aufgeben müsste.
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Leicht zu beschaffende Zutaten
Besonders beklemmend daran: Die Zutaten für eine schmutzige Bombe sind sehr leicht zu beschaffen. Auf amerikanischen Schrottplätzen kann man ein Lied davon singen. In Pennsylvania tauchte vor kurzem auf einem Schrottplatz eine verlorengegangene Strahlenkanone auf, immer wieder verschwinden aus Industrie und Krankenhäusern stark radioaktive Strahlenquellen.
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Datenbank für Nuklear-Diebstahl
"Jedes Jahr werden in den USA im Durchschnitt rund 200 Strahlenquellen, die registriert waren, entweder gestohlen gemeldet oder als verlorengegangen gemeldet", erzählt Fritz Steinhäusler. Zumindest ein Teil davon wäre geeignet, als Kern einer schmutzigen Strahlenbombe zu dienen.

In Stanford ist in den letzten Jahren die umfassendste Datenbank über verschwundenes Nuklearmaterial entstanden. Zwischenfälle aus aller Welt sind dokumentiert. Die internationale Zusammenarbeit mit Forschern und Sicherheitsbehörden soll intensiviert werden.
Erhöhte Alarmbereitschaft
In Atomkraftwerk San Onofre hält man unterdessen die bunkerartige Kommandozentrale gut in Schuss, das ist der Raum, in dem man selbst dann noch alle Fäden zusammenlaufen sollen, wenn der Reaktor nebenan durchzuschmelzen droht.

Man hat sich hier immer für ausreichend gewappnet gehalten, für Unglücksfälle aller Art. Aber seit dem 11. September ist auch hier jedem klar, dass selbst 99-prozentige Sicherheit vergeblich sein kann, wenn jemand bewusst darauf abzielt, das verwundbare hundertste Prozent zu treffen.

Peter Fritz, ORF-Korrespondent in Washington
->   Stanford University
 
 
 
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01.01.2010