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Das fremde Denken  
  "Gibt es eine afrikanische Philosophie?" Seit zwei Jahrzehnten hat sich der Wiener Philosoph Franz M. Wimmer mit dieser Frage beschäftigt und damit die eurozentrische Perspektive der Philosophiegeschichte in Frage gestellt. Das "polylogische" Nachdenken mit Vertretern anderer Philosophie-Kulturen hat auch zu der Erkenntnis geführt, wie sehr bereits die Sprachform das Denken disponiert. Descartes berühmter Satz "Ich denke, also bin ich" ist deshalb nicht überall denkbar.  
Der europäische Blick auf fremde Kulturen war immer schon etwas einseitig. Den Griechen galten alle fremden Völker als "Barbaren", während man für sich in Anspruch nahm, die "Liebe zur Weisheit" - wie der Begriff "Philosophie" wörtlich zu übersetzen ist - erfunden zu haben.

Diese Haltung lässt sich bis ins 20. Jahrhundert weiterverfolgen: Hier im Abendland sei das "wahre" Denken zu Hause. Und was im Rest der Welt passiert, mag exotisch sein - aber gewiss keine echte Philosophie.
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"Was ist das - Philosophie?"
Am krassesten hat es Martin Heidegger, der Philosoph der deutschen "Tümlichkeit", ausgedrückt. In seiner 1943 gehaltenen Heraklit-Vorlesung meinte er: "Es gibt keine andere Philosophie als die abendländische." Und in seinem Buch "Was ist das - Philosophie?" legte er nach: "Die oft gehörte Redewendung von der 'abendländisch-europäischen' Philosophie ist in Wahrheit eine Tautologie." Mit anderen Worten: "Philosophie" und "abendländisches Denken" seien ebenso gleichbedeutend wie die Begriffe "weißes Pferd" und "Schimmel".
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Ausschluss aus dem Club der abendländischen Philosophie
Zugleich bedeutet diese Aussage natürlich einen großen Ausschluss. Denn was immer Denker in anderen Kulturen produziert haben: Der Zutritt in den erlauchten Club der abendländischen Geistesgrößen muss ihnen verwehrt bleiben. Doch denkt man in fremden Kulturen wirklich völlig anders? Und wenn ja, was berechtigt zu der Aussage, dass dies keine Philosophie sei?
Interkulturelle Philosophie
Franz Martin Wimmer vom Institut für Philosophie der Universität Wien sucht seit zwanzig Jahren Antworten auf solche und ähnliche Fragen. Dabei hat seine akademische Laufbahn ganz anders begonnen: Studium in München und Salzburg, später Dissertation im Bereich Wissenschaftstheorie.

Ein Karriereauftakt also, der dem Ideal der modernen, angelsächsisch geprägten Philosophie entspricht. Kein grüblerischer Wildwuchs an Gedankenbildern, sondern Argumentationen mit dem messerscharfen Begriffsbesteck der Logik und der analytischen Philosophie.
Abkehr vom Eurozentrismus
Dann allerdings, Anfang der Achtzigerjahre, verlagerten sich Wimmers Interessen. Er lehrte im Rahmen einer Gastprofessur in Kalifornien. Und ungefähr zu jener Zeit gelangte er zur Überzeugung, dass die akademische Philosophie einen Bezug zur Gesellschaftsentwicklung haben müsse.

Von da an hieß sein Programm: die praktische und theoretische Überwindung des Eurozentrismus durch Beschäftigung mit dem "exotischen", fremden Denken. Eine Suche, die nicht zuletzt auch auf das "Exotische" in den eigenen Gedanken abzielt.
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"Gibt es eine afrikanische Philosophie?"
Nach Studien über China, Japan und Indien wandte sich Wimmer Ende der Achtzigerjahre Afrika zu - und widmete erstmals der Frage "Gibt es eine afrikanische Philosophie?" eine Vorlesung. Zu dieser Zeit gab es zu diesem Thema kaum deutschsprachige Literatur - für die akademische Welt war Afrika ein vergessener Kontinent. Heute ist das anders. Mittlerweile werden regelmäßig internationale Kongresse über afrikanische Philosophie abgehalten, und die publizierte Literatur füllt Bibliotheksregale.
->   Vier Fragen zur Philosophie in Afrika, Asien und Lateinamerika (Texte als PDF-Files)
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Kulturelle Differenzen
Aussagen à la Heidegger, wonach die Welt in zwei intellektuelle Hemisphären einzuteilen wäre, sind für Wimmer nicht mehr wirklich diskussionswürdig. Selbstverständlich seien auch die afrikanischen, asiatischen und südamerikanischen Beiträge "richtige" Philosophie.

Für ihn geht es vielmehr um die Grundfrage: "Welche kulturellen Differenzen gibt es?" Um das zu beantworten, sollte aber vor allem eines gewährleistet sein: "Man muss die Leute aus den jeweiligen Regionen selbst zum Sprechen bringen. Denn nur dann kann das wichtigste Ziel verwirklicht werden: ein gleichrangiger Dialog zwischen kulturellen Regionalismen - einschließlich Europas."

Wimmer hat für diesen Idealzustand den Begriff "Polylog" geprägt. Mittlerweile erscheint regelmäßig eine Zeitschrift gleichen Namens, vor zwei Jahren ging auch ein Internetforum online.
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Polyloge in der Praxis
Wie fruchtbar der interkulturelle Gedankenaustausch für die Philosophie sein kann, dokumentiert seit 1998 die halbjährlich erscheinende Zeitschrift "polylog". Die Ausgaben des ambitionierten Philosophiemagazins sind thematischen Schwerpunkten (Gerechtigkeit, Ontologie etc.) gewidmet; seine Beiträge von Denkern aus aller Welt werden allesamt ins Deutsche übersetzt.

Auf der gleichnamigen Website kann man die meisten Texte der Zeitschrift und etliche andere in den Originalsprachen nachlesen. Darüber hinaus bietet das wie eine Newsgroup gestaltete Internetforum die Möglichkeit, Anfragen zu stellen und miteinander zu diskutieren. Herausgeberin von "polylog" ist die 1994 gegründete Wiener Gesellschaft für interkulturelle Philosophie (WiGiP), die auch regelmäßig Arbeitskreise und Vorträge abhält. Ihre Schwesterorganisation ist die Gesellschaft für interkulturelle Philosophie (GiP) in Köln, deren nächster Kongress unter dem Titel "Die Sprachen der Philosophie - eine interkulturelle Perspektive" steht und vom 9. bis 12. Oktober 2002 in München stattfindet.
->   Website der Zeitschrift "Polylog"
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Internationaler Gedankenaustausch
Nach der Phase des kolonialistischen Monologisierens der Europäer ist man nun also in die Periode des offenen internationalen Gedankenaustauschs getreten. Der Polylog schafft breite Möglichkeiten der Kommunikation - aber er verhindert natürlich nicht, dass trotzdem gewisse Barrieren bestehen bleiben. Denn: "Die Sprachform disponiert das Denken", stellt Wimmer fest.
"Ich denke, also bin ich" - oder?
So kann es durchaus geschehen, dass gewisse Sätze unübersetzbar bleiben. Der aus Ghana stammende Philosoph Kwasi Wiredu beispielsweise kam zum Ergebnis, dass der bekannte Satz "Ich denke, also bin ich" von René Descartes in der Bantu-Sprache Akan schlichtweg sinnlos sei. Denn in Akan folgt der Wendung "Ich bin" immer ein Attribut oder eine Ortsangabe. Folglich zöge Descartes Spruch in der Akan-Sprache die Frage nach sich: "Du bist ... was? ... wo?"
Produktive Differenzen
Der entscheidende Punkt ist, dass man heute solche Differenzen nicht mehr als Unzulänglichkeit ansieht. "Denn diese Erweiterung des sprachlichen Horizonts kann uns durchaus auf Mängel in unserer Ausdrucksweise hinweisen", so Wimmer.

Und in der Tat kam zum Beispiel der deutsche Logiker und Philosoph Rudolf Carnap 1931 zu einem ähnlichen Ergebnis wie Wiredu. Er meinte, dass Descartes Ausspruch selbst im Deutschen und Französischen sinnlos sei.

Robert Czepel - Falter "heureka"/ science.ORF.at
->   Homepage von Franz Martin Wimmer
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"heureka" - Wissenschaft in der "Dritten Welt"
Die Langfassung dieses Textes erscheint im nächsten "heureka", der Wissenschaftsbeilage des Falters, am kommenden Mittwoch, dem 19. Juni. Weitere Themen des Schwerpunktheftes zu Wissenschaft in der "Dritten Welt" sind u.a. die "Auslagerung" von klinischen Versuchreihen in Entwicklungsländer und die "Knochenkriege" der Paläoanthropologen in Ostafrika. Alle Texte finden sich auch auf der heureka - Homepage.
->   heureka
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01.01.2010