News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Medizin und Gesundheit .  Wissen und Bildung .  Gesellschaft 
 
Fußball in Südamerika: Zwischen global und neoliberal  
  Wer an Fußball in Südamerika denkt, denkt meist an "das schöne Spiel" - jene Ästhetik des brasilianischen Ballzaubers, die im Gegensatz zur nüchternen Zweckrationalität der Europäer steht und so weltweit zur Identifikation einlädt. Über das Zu-Stande -Kommen dieses Phänomens in einer zunehmend globalisierten Welt und die aktuellen Krisen des südamerikanischen Fußballs im Zeitalter des Neoliberalismus gab ein Vortrag an der Uni Wien Auskunft.  
Der schottische Soziologiedozent Richard Giulianotti folgte in seiner Vorlesung einer Theorie seines Forschungskollegen Roland Robertson, der die Globalisierung in fünf Phasen eingeteilt hat, und verband sie mit der historischen Entwicklung des Fußballs in Südamerika.
...
Teil einer Ringvorlesung der Uni Wien
Richard Giulianotti, Dozent für Soziologie an der University of Aberdeen, sprach im Rahmen der Ringvorlesung "Global Players. Ökonomie, Politik und Kultur des Fußballs" im Mai dieses Jahres an der Universität Wien zum Thema "Fußball in Südamerika: Globalisierung, Neoliberalismus und die Politik der Korruption". science.ORF.at bringt in diesem Artikel eine Zusammenfassung des Vortrags, weitere Berichte folgen in den nächsten Tagen.
->   Richard Giulianotti an der University of Aberdeen
...
Fußball in Südamerika ab 1870
Die ersten beiden Phasen ("Keimphase": 1400 bis 1750, "Anfangsphase": bis in die 1870er Jahre) sind hinsichtlich der Entwicklung des Fußballs weniger von Bedeutung.

In Großbritannien bildeten sich im 19. Jahrhundert die Regeln des Fußballspiels, die danach die ganze Welt erobern sollten.

Der nun standardisierte Sport gewann ab den 1870er Jahren in Südamerika große Popularität, unter anderem durch die Transformationen im Bereich der Medien und des Verkehrs, die die nationale wie internationale Verbreitung von Fußballkenntnissen begünstigten.
->   Mehr dazu in: "Wie ein englisches Spiel die Welt eroberte"
Die Rolle von Schiff und Eisenbahn
In dieser Zeit fanden die ersten "Vorführungen" von Fußballtechnik durch britische Seeleute, Lehrer, Kaufleute oder Eisenbahn-Angestellte in Südamerika statt - speziell in den Hafenstädten.

Gleichzeitig spielten ihre Landsleute auch eine zentrale Rolle bei der Entwicklung der Eisenbahnverbindungen in Brasilien, Argentinien und Uruguay, womit der Sport auch im Landesinneren Verbreitung fand.
...
Südamerikanische Klubs mit britischen Namen
Viele südamerikanische Spitzenklubs zeugen von der britischen Prägung: In Uruguay entstand Penarol aus dem Central Uruguay Railway's Cricket Club, der von Briten geführt wurde; in Rosario wurden die Newell's Old Boys von den ehemaligen Schülern des gleichnamigen britischen Lehrers gegründet; im Hafengebiet von Buenos Aires schließlich gründeten Engländer den Verein River Plate.
...
Grundlegende Referenzpunkte der Globalisierung
In der dritten Phase ("Take-off-Phase": bis Mitte der 1920er Jahre) etablierten sich jene vier Elemente, die Robertson als "grundlegende Referenzpunkte" von Globalisierung bezeichnet: das Individuum, der Nationalstaat, das Weltsystem, und Vorstellungen von einer globalen Menschheit.

Giulianotti schlüsselte sie in Bezug auf Fußball folgendermaßen auf: Individualität wurde den Fußballern durch bestimmte Positionen auf dem Feld und ihren vertraglichen Status geboten.

Nationale Identitäten wurden durch die Bildung von Länderteams und durch eine Reihe entsprechender Riten und Symbole (Flaggen, Hymnen) zum Ausdruck gebracht.

Gleichzeitig schlossen sich die für den nationalen Spielbetrieb zuständigen Fußballverbände zu einem internationalen Fußballsystem (FIFA) zusammen.
...
Nationale Hybridität
Es gab laut Giulianotti allerdings zwei Hemmnisse für die Etablierung nationaler Fußballsysteme und nationaler Ideologien: Die geografische Ausdehnung der südamerikanischen Staaten und ihre kulturelle "Hybridität", die sich aus vielfältigen Überschneidungen britischer, iberischer, italienischer, afrikanischer und indianischer Einflüsse zusammensetzte. Zwar halfen die Erfolge etwa des brasilianischen Nationalteams, die nationale Identität zu festigen, zugleich aber macht es die geografische Ausdehnung des Landes bis heute schwierig, eine komplette nationale Liga zu installieren.
...
Kampf um sozioökonomische Hegemonie
In die nach Robertson vierte Phase ("Kampf um die Hegemonie": 1920er bis späte 1960er Jahre) fallen sowohl der Zweite Weltkrieg als auch der Kalte Krieg.

Der Charakter des Spiels veränderte sich in dieser Zeit vor allem durch lokale und kulturelle Kräfte: einerseits, so Giulianotti, durch die Verschiebung der sozioökonomischen Hegemonie innerhalb des Spiels, andererseits durch die Ausbildung eines klareren Verständnisses darüber, welchen Stellenwert Südamerika in einem globalen Fußball- und Gesellschaftssystem hatte.
Klassenkampf: Amateur vs. Professionalist
Eine Schlüsselrolle im "Klassenkampf" des Fußballs spielte laut Giulianotti die Frage des Amateurismus, nützte doch die weiße Oberschicht das Verbot des Professionalismus dazu, das Eindringen von Arbeitern und nicht weißen Bevölkerungsschichten in den Sport zu verhindern.

Nachdem einige Jahre lang in vielen Teams "Scheinamateure" spielten, gewann der brasilianische Verein Vasco da Gama 1923 die Rio-Liga - er war der erste, der Spieler aus der Arbeiterschaft und aus allen ethnischen Gruppen rekrutiert und ihren Unterhalt finanziert hatte. Andere Klubs waren gezwungen, diesem Beispiel zu folgen, und gingen schrittweise zum Professionalismus über.
Identitätsstiftend: Klasse, Ethnie und Region
In diesen Jahren bildeten sich auch jene Identitäten der Vereine heraus, die bis heute Bestand haben - und zwar rund um die Kategorien Klasse, Ethnie und lokale oder regionale Zugehörigkeit.

In Montevideo etwa wird der eher italienisch codierte Arbeiterverein Penarol von Nacional unterschieden, der als Verein der Wohlhabenderen gilt und ältere uruguayische Zuschreibungen trägt.
...
Die "Nation-Werdung" Uruguays
Das beste Beispiel für nationale Identitätsstiftung bietet Uruguay, Sieger der olympischen Fußballturniere der Jahre 1924 und 1928 und Weltmeister 1930. Diese Ereignisse wurden nach Giulianotti zum nationalen Gründungsmythos, in gewisser Hinsicht wurde Uruguay dadurch erst "erschaffen". Doch Uruguays hegemoniale Position im Fußball konnte nicht halten. Eine Reihe von Spielern aus Uruguay und Argentinien mit mehr oder weniger starken italienischen Wurzeln wurden vom italienischen Nationalteam in den 1930er Jahren als so genannte "rimpatriati" rekrutiert, um bei diversen WM-Endrunden anzutreten.
...
Vom Sturz der Militärregimes zum Neoliberalismus
Die Phase ab den späten 1960er Jahren bis heute wird von Robertson jene der "Unsicherheit" genannt: Zahlreiche Militärregimes gingen noch vor dem Ende des Kalten Krieges unter (etwa in Argentinien, Paraguay), doch der anhaltende Einfluss der USA auf die Strukturen Südamerikas begünstigte Herrschaftsmodelle, die sich auf charismatische, rechts von der Mitte angesiedelte Politiker und eine neoliberale Wirtschaftspolitik stützten (z.B. Menem in Argentinien, Fujimori in Peru).

Diese Modelle gingen einher mit neoliberalen Reformen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik, steigender Arbeitslosigkeit, wachsender Verschuldung bei internationalen Institutionen, einer Vergrößerung der sozialen Ungleichheiten und somit wachsender "Unsicherheit" über die Zukunft des Kontinents als solchem.
Wachsender Einfluss südamerikanischer Eliten
Die internationale Fußballpolitik war in dieser fünften Phase durch die Beteiligung und den größeren Einfluss südamerikanischer Eliten gekennzeichnet - ausgedrückt etwa durch die FIFA-Präsidentschaft des Brasilianers Joao Havelange, die von 1974 bis 1998 dauerte.
...
Zu der Veranstaltung sind zwei Bücher erschienen:
Michael Fanizadeh, Gerald Hödl and Wolfram Manzenreiter (Hg.): Global Players. Kultur, Ökonomie und Politik des Fußballs. Frankfurt/Wien: Brandes&Apsel/Südwind 2002. ISBN 3-86099-236-8
John Horne und Wolfram Manzenreiter (Hg.): Japan, Korea and the 2002 World Cup. London: Routledge 2002. Pb ISBN 0-415-27563-6
...
Exportschlager Fußballer ...
Zugleich kam es zu einer stärker kommerziell, neoliberal und global orientierten Management-Kultur des Fußballs, am besten sichtbar durch die zunehmende Teilnahme am weltweiten Spielermarkt. Brasilien hat laut Giulianotti seit 1999 650 Spieler "exportiert", derzeit verdienen mehr als 400 Fußballer aus Uruguay außerhalb ihrer Heimat ihr Geld.

Diese Migrationsbewegungen haben in erster Linie mit den wirtschaftlichen Problemen der Vereine zu tun: Der Verkauf junger, erfolgversprechender Spieler nach Europa, Asien oder Nordamerika gilt als probateste Antwort auf deren Schuldenkrise.
... wie Bananen und Kaffee
Das "neoimperialistische System" lässt aus den Spielern Waren werden wie Bananen oder Kaffee. Dass der Aderlass an Talenten nicht ohne Folgen für das Niveau des südamerikanischen Fußballs bleibt, ist nach Giulianotti folgerichtig.
Folgt Aderlass WM-Schwierigkeiten?
Und das könnte sich nicht nur auf das Niveau des Vereinsfußballs auswirken, wie in der Vergangenheit bereits merkbar, sondern sehr bald schon auch auf jenes der Nationalteams - auch wenn Argentinien und Brasilien zum Favoritenkreis der WM in Japan und Südkorea zähl(t)en.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at
->   Geschichte der FIFA
->   Roland Robertson: Globalisation
Weitere Geschichten zur Fußball-WM in science.ORF.at:
->   Fußball als Werkzeug des (Post-)Kolonialismus
->   Elfmeterschießen: Keine Frage des Glücks
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Medizin und Gesundheit .  Wissen und Bildung .  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010