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An den Grenzen des Darwinismus  
  Eine von Darwins theoretischen Grundannahmen, das "Prinzip der gemeinsamen Abstammung", gilt als zentrales Dogma der Biowissenschaften. Eine neue Theorie zur Zell-Evolution deckt nun die Grenzen dieses Prinzips auf. Denn in den Frühzeiten der Evolution waren offensichtlich Triebkräfte am Werk, von denen Darwin noch nichts wissen konnte. Der vorgeschlagene Mechanismus heißt "horizontaler Gentransfer" und schränkt die evolutionäre Relevanz der klassischen Vererbung - von einer Generation zur nächsten - maßgeblich ein.  
Das Leben begann nicht mit einer Urzelle
Das Leben, so wie wir es heute kennen, begann nicht mit einer Urzelle - so lautet die Grundaussage der nun vom Mikrobiologen Carl E. Woese vorgestellten Theorie. Der Ursprung des "Lebensbaumes" besteht aus keinem einzelnen Stamm, sondern vielmehr aus einem Zusammenschluss verschiedener Zelltypen, die in regem genetischen Austausch standen.

Erst viel später, Woese nennt dies die "Darwinsche Schwelle", brachte die Evolution jene distinkten Organisationsformen von Lebewesen hervor, die zu den heute feststellbaren Abstammungslinien führten. Davor galt das Motto: Fortschritt durch Tausch.
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Darwin refuted
Die Veröffentlichung von Carl E. Woese erschien in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins "Proceedings of the National Academy of Sciences" (PNAS, 18. Juni 2002).
->   PNAS
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Über Darwin hinaus
"Wir können die Zell-Evolution nicht erklären, wenn wir uns auf die klassische Darwinsche Denkweise beschränken", meint Carl E. Woese von der University of Illinois: "Für die Biologie ist es nun an der Zeit, über die Doktrin der gemeinsamen Abstammung hinauszugehen."

Die Tragweite dieser Aussage wird erst dann verständlich, wenn man sich Darwins ursprüngliche Argumentation vor Augen führt. Gemäß seiner - erstmals in dem Buch "The Origin of Species" formulierten - evolutionären Vorstellungen, muss das Leben als gigantische Generationenfolge betrachtet werden, an deren Ursprung eine Urzelle gestanden haben sollte.
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"¿must have passed from one part to the others"
Im Schlusskapitel seines Hauptwerkes hatte Darwin resümierend festgestellt: "All the individuals of the same species, and all the species of the same genus, or even higher group, must have descended from common parents; and therefore, in however distant and isolated parts of the world they are now found, they must in the course of successive generations have passed from some one part to the others."
->   "Origin of Species", Kapitel 14
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Gültigkeitsgrenzen für Darwins Prinzip
Woese widerlegt mit seiner Theorie zwar nicht den klassischen Darwinismus - aber er weist dem Prinzip der gemeinsamen Abstammung seine Gültigkeitsgrenzen zu. Und zwar deshalb, weil es für die Frühphasen der Evolution offensichtlich sinnlos ist, von "Abstammung" im Sinne einer linearen Generationenfolge zu sprechen.
Woeses erster Streich
Es ist nicht das erste mal, dass Carl Woese die Grundfesten des biologischen Lehrgebäudes erschüttert. Bereits in den 1970er Jahren hatte er nachweisen können, dass die damals gängige Einteilung der Lebewesen in zwei Hauptgruppen - die Eukaryonten und Prokaryonten - unvollständig war. Wie sich aus seinen Forschungen ergab, existiert noch eine dritte systematisch abgrenzbare Großgruppe: die so genannten "Archaea".
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Die drei Großgruppen des Lebens
In der biologischen Großsystematik unterscheidet man Zellen mit einem echten Zellkern (Eukaryonta). Zu diesen gehören alle Pflanzen und Tiere, sowie Pilze und Schleimpilze. Zu den Zellen ohne echten Zellkern (Prokaryonta) gehören alle Bakterien. Die dritte, von Woese eingeführte Gruppe (Archaea), besteht aus (äußerlich) bakterienähnlichen Zelltypen, die oft unter extremen Lebensbedingungen (heiße Quellen, Salzseen) vorkommen und von beiden anderen Gruppen durch Eigenheiten der Zellmembran, gewisser Enzyme und des Erbguts klar abgrenzbar sind.
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Dreifacher Ursprung des Lebens
Genau diese Dreiteilung wendet Woese nun auch bei seiner Theorie der Zellevolution an. Laut seinen Vorstellungen haben sich Eu- und Prokaryonten sowie Archaea unabhängig entwickelt, standen aber in der Urzeit in regem Genaustausch. Woese stützt seine These auf mikrobielle Genanalysen, deren Daten nahe legen, dass die heute beobachtbaren Eigenschaften der verschiedenen Zelltypen nur durch "horizontalen Gentransfer" zustande gekommen sein konnten.
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Gentransfer: Horizontal und vertikal
Als vertikalen Gentransfer bezeichnet man die "normale" Vererbung von einer Generation zur nächsten einer Art. Der horizontale Gentransfer bezeichnet hingegen den Austausch genetischer Information zwischen verschiedenen Arten.

Da vor allem Tiere und Pflanzen komplizierte Fortpflanzungsmechanismen entwickelt haben, kommt dieses Phänomen heute eher selten vor. Trotzdem spielt es in der Risikoabschätzung für gentechnisch modifizierte Lebewesen eine Rolle, da auf diese Weise etwa Resistenzgene übertragen werden könnten.
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Gentransfer löscht Abstammungslinien aus
Der Gegensatz zur Darwinschen Lehre besteht nun insofern, als bei primitiven Organismen der horizontale Gentransfer "die Abstammungslinien zwischen diesen völlig auslöscht", wie Woese ausführt. Mit anderen Worten, die Evolution der modernen Zelltypen wurzelt in einem - dreiteiligen - Netz loser Zellverbände, die untereinander Gene, Proteine und Zellkomponenten austauschten.
Die "Darwinsche Schwelle"
Erst ab einer gewissen Schwelle der Komplexität, Woese spricht von einer "Darwinschen Schwelle", habe sich dann die klassische - vertikale - Vererbung als treibende Kraft der Evolution etabliert. Erst hier beginnt die Gültigkeit des Darwinschen Prinzips der gemeinsamen Abstammung.

Aus dieser Interpretation erkläre sich auch die mosaikhafte Ähnlichkeit der drei modernen Zelltypen, so Woese. Denn zelluläre Übereinstimmungen seien Reste jener Phase, als in der Evolution noch das Motto "Fortschritt durch Tausch" galt.

Robert Czepel, science.ORF.at
->   Carl Woeses Homepage
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01.01.2010