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Suizid: Forscher untersuchen biologische Faktoren  
  Nach Unfällen ist Selbstmord die zweithäufigste Todesursache bei Menschen zwischen 15 und 35 Jahren. Neben psychologischen rücken zunehmend auch biologische Faktoren in den Blickpunkt der Suizidforschung.  
Denn oft leiden selbstmordgefährdete Menschen an Depressionen und wissen es gar nicht. Was steckt nun medizinisch hinter der Neigung sich das Leben zu nehmen?

Am Max Planck Institut für Psychiatrie in München kämpfen Forscher um ein neues wissenschaftliches Bild vom Selbstmord. Sie wollen nicht mehr von Selbstmord oder Freitod sprechen, sondern von Suizid.
Biologische Faktoren spielen eine Rolle
Thomas Bronisch, Leiter des Instituts verweist vor allem auf die biologische Komponente des Suizids. ¿Trotz der Tatsache, dass ein Suizid oder Suizidversuch auch psychologisch erklärt werden kann, gibt es eine gewisse Disposition zu Suizidalität, die auch in der Biologie des Menschen verankert ist", erklärt der Mediziner.
Suizid - ein genuin menschliches Handeln
Wenn also scheinbar nicht der Mensch Herr seiner Handlungen ist, so stellt sich die Frage, wo passieren Planung und Vollzug für ein solches Vorhaben?

Die Tatsache, dass Suizid ein genuin menschliches Handeln ist, lässt die Wissenschafter vermuten, dass der anatomische Ort des Geschehens der jüngste Bereich des Gehirns ist: das Stirnhirn.
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Stirnhirn
Auch Frontallappen oder Stirnlappen, sie gehören zu den kompliziertesten Abschnitten des Gehirns. Beim Menschen machen sie etwa 25 Prozent der Gehirnmasse aus. Die Rinde der Stirnlappen umfasst sowohl das prämotorische Gebiet, das mit der Organisation der Bewegungsfunktionen verbunden ist, als auch die präfrontale Rinde, welche die ganzheitliche Organisation der in bestimmten Programmen ablaufenden willkürlichen Tätigkeit des Menschen garantiert
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Funktionsstörungen führen zu Kontrollverlust
Eine dichte Verknüpfung von Nervenzellen ist darauf spezialisiert Impulse weiterzuleiten. Schaltfehler in diesem undurchsichtigen Netzwerk führen zu weitverzweigten Funktionsstörungen.

In Folge dieser Störung verlieren Menschen die Kontrolle über ihr Handeln und kämpfen damit, Probleme zu lösen. Das spitzt sich zu erhöhtem Aggressionsverhalten zu.
Ursache: Mangel im Stoffwechselsystem
"Es ist ein Mangel in diesem System und das führt zu einer vermehrten Impulsivität und Aggressivität, die gegen die eigene Person aber auch gegen andere gerichtet sein kann," wie Bronisch erläutert. Darauf deuten Stoffwechselprodukte im Blut, im Nervenwasser oder direkte Hinweise im Gehirn.

Denn Aggressivität und Impulsivität gehen mit tiefgreifenden biochemischen Veränderungen im Gehirn Hand in Hand. Auch wenn nicht jeder, der einmal die Nerven verliert, deshalb gleich an Stoffwechselstörungen im Gehirn leidet.

Dennoch gibt es einen Zusammenhang zwischen erhöhter Aggression einerseits und einem verminderten Stoffwechsel im Gehirn andererseits.

So belegen klinischer Studien, dass beispielsweise eine Fehlfunktion des Botenstoffs Serotonin von einem zu niedrigen Cholesterinspiegel beeinflusst wird. Auch Fehlschaltungen der Stressachse verändern den Stoffwechselhaushalt im Gehirn.
Bildgebende Verfahren geben Aufschluss
Was sich im Körper eines Suizidpatienten abspielt, wird mit bildgebenden Verfahren nachvollziehbar.

Siegfried Kasper, Leiter der allgemeinen Psychiatrie am Wiener AKH, untersuchte mithilfe bildgebender Verfahren Patienten, die an Depression erkrankt sind.

In diesen Studien lassen sich deutliche Unterschiede in der Hirnaktivität zwischen gesunden und depressiven Patienten feststellen.

"Während bei gesunden Menschen und Depressiven im Stammganglienbereich keine Unterschiede bestehen, ist ein deutlicher Unterschied zwischen Gesunden und Depressiven im Hirnstammbereich zu sehen. Bei Depressiven Menschen ist eine geringere Ausprägung der Aktivität im Hirnstamm zu verzeichnen.¿
Frühwarnsystem
Geringe Hirnaktivität verbunden mit einer bestimmten genetischen Konstellation könnte in Zukunft ausreichen, um ein erhöhtes Depressionsrisiko zu diagnostizieren.

Bildgebende Verfahren und genetische Untersuchungen sind in unmittelbarer Zukunft sowohl Frühwarnsystem, als auch Kontrolle von therapeutischen Maßnahmen.
Suizidfrüherkennung mit Bluttests?
Thomas Bronisch in München und Kollegen hoffen, eines Tages augrund des Serotoningehalts im Blut von Patienten Aussagen über deren Selbstmordneigung treffen zu können.

In einem sind sich die Wissenschafter allerdings einig: Trotz biochemischer Grundlagen, die völlig neue medikamentöse Perspektiven ermöglichen, wird das psychotherapeutische Gespräch der zentrale Bestandteil einer Behandlung bleiben.

Martina Schmidt, Modern Times
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Mehr zu diesem Thema in "Modern Times ", Freitag, 21 Juni.2002, 22.35 Uhr, ORF 2.
->   Modern Times
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->   Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München
->   Klinische Abteilung für Allgemeine Psychiatrie in Wien
->   Mehr zum Thema Suizid in science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010