Host-Info
Franz Seifert
Freier Sozialwissenschaftler in Wien
 
ORF ON Science :  Franz Seifert :  Gesellschaft 
 
Globalisierungsproteste und Demokratie  
  Die Schüsse in Göteborg markieren eine Eskalation in der Fehde zwischen Globalisierungsgegnern und Staatsgewalt. Welche Bedeutung haben diese Ereignisse aus demokratietheoretischer Sicht?  
Uneindeutigkeit
Die Anti-Globalisierungsbewegung, deren Tumulte seit Seattle die Bildschirme beleben, arten zusehends in Gewalt aus. Eine telegene Gewalt, die in der Wahrnehmung von Medien und breiter Öffentlichkeiten immer chaotischer und bedrohlicher wird.

Begreift man Demokratie als Herrschaftssystem, das neben staatlichen Ordnungsfunktionen allein friedliche Regierungswechsel zuwege bringen soll, sieht man das wohl ähnlich. Dann sind die Demonstranten die Brandstifter.

Doch was "Demokratie" eigentlich bedeutet, ist selbst (und gerade) unter Gelehrten strittig. Mit einer "Herrschaft des Volkes" haben heutige repräsentative Demokratien jedenfalls nur wenig gemein. Sie folgen einem Elitemodell der Demokratie. Abwählbare politische und unsichtbare technische Eliten treffen die Entscheidungen. Die Öffentlichkeit sieht zu - oder weg.
Demokratie im Wandel
Demokratien befinden sich zudem in einem Wandel, dessen Tragweite heute kaum zu ermessen ist. Robert Dahl nannte diesen Wandel der Demokratie ihre "dritte Transformation".

Die erste Transformation fand vor 2.500 Jahren statt. Stadtstaaten schüttelten ihre Oligarchen ab und erklärten sich zu Gemeinschaften gleichberechtigter Bürger. Mit Stadtstaaten (etwa Machiavellis Florenz oder Rousseaus Genf) blieb der Begriff Demokratie auch die folgenden zwei Jahrtausende verknüpft.

Die Expansion territorialer Nationalstaaten im 18. Jahrhundert brachte die zweite Transformation. Diese verschlangen die Stadtstaaten übernahmen aber auch nach und nach deren Gesellschaftsform.
Eine Kluft tut sich auf
Die nun entstehenden, Millionen von Bürgern zählenden Demokratien machten die Schaffung repräsentativer Institutionen erforderlich: Wahlen, Parlamente, Parteien.

Zwar waren die großen Staaten machtvoller, konnten demokratische Entscheidungen daher eher realisieren als die winzigen Stadtstaaten. Die direkte Mitbestimmung und Beratung der Bürger aber verkümmerte. Eine Kluft zwischen der Masse der Bürger und den Entscheidungseliten tat sich auf.
Die dritte Transformation
Die dritte Transformation der Demokratie ist gegenwärtig im Gang. Mit ihr rückt das politische Geschehen in Sphären jenseits des Nationalstaats. Was an seine Stelle treten wird, ist ungewiß.

Mit der Globalisierung von Wirtschaft, Technologie und Kultur büßt er seine Handlungskapazität merklich ein. Die politischen Eliten geben sie in Form von Staatenbünden oder internationalen Abkommen (etwa EU und WTO) aber auch aus eigenem Antrieb auf. Zumal sie so ihre eigene Vormachtstellungen im nationalen Kontext wahren.

Mit der Verlagerung von Entscheidungsmacht auf internationale Ebenen, meist in Gestalt von Marktregimes, schnellt die Zahl der von diesen Entscheidungen Betroffenen in astronomische Höhen. Man denke an IMF- oder WTO-Beschlüsse, die Abermillionen Menschen betreffen. Gleichzeitig rückt die Entscheidungssphäre für eben diese Betroffenen in unerreichbare Ferne.
Krise als Chance
Demokratie, seit 200 Jahren mit der Idee nationaler Souveränität verknüpft, gerät mit der dritten Transformation in Legitimationsprobleme. Sie finden u.a. Ausdruck im zivilgesellschaftlichen Globalisierungprotest.

Dagegen neigen die politischen Eliten selbst dazu, die Dramatik der dritten Transformation abzutun. Das ist nur folgerichtig, denn gewählt werden sie von nationalem Bevölkerungen, denen gegenüber sie nationale Handlungsfähigkeit suggerieren müssen, selbst dann, wenn diese lange aufgebraucht ist.

Neben der Wiederbelebung von 68er-Romantik durch meist jugendliche Aktivisten tun die Globalisierungsproteste also v.a. eines: Sie richten die Aufmerksamkeit der breiten, schweigenden Öffentlichkeit auf die dritte Transformation der Demokratie. Eine Transformation die gestaltbar ist, und die es - jenseits technischer und ökonomischer Imperative - zu gestalten gilt.
 
 
 
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