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Franz Seifert
Freier Sozialwissenschaftler in Wien
 
ORF ON Science :  Franz Seifert :  Gesellschaft 
 
Marvin Harris: Nachruf auf den Kulturanthropologen  
  Der US-amerikanische Kulturanthropologe Marvin Harris erklärte gesellschaftliche Erscheinungen gemäß der Theorie des "Kulturmaterialismus" vor allem aus deren praktischer Notwendigkeit. Mit seinen Thesen erreichte er zwar eine breite Öffentlichkeit, blieb unter seinen Kollegen aber umstritten und galt sozusagen als "Schwarzes Schaf" der Zunft. Am 25. Oktober starb er in Gainsville, Florida im Alter von 74 Jahren.  
Ein großer Popularisierer
Der Kulturanthropologie, in unseren Breiten auch ¿Ethnologie¿, einst auch ¿Völkerkunde¿ genannt, wird oft nachgesagt, in einem akademischen Elfenbeinturm zu residieren.

Verstrickt in leidenschaftliche Dispute zu Fragen wie: ¿Warum ist das Inzest-Tabu (das Verbot von Sex zwischen Angehörigen der Kernfamilie) in so gut wie allen menschlichen Kulturen wirksam?¿ oder: ¿Weshalb sind Intitiationsriten für die, die sie zu durchlaufen haben, meist schmerzhaft und angstbesetzt?¿ mutet diese Wissenschaft mitunter ebenso exotisch an wie ihr Untersuchungsgegenstand: die Welt der außereuropäischen Kulturen.

Schwarzes Schaf unter den selbstgenügsamen Kulturanthropologen gewesen zu sein, ist vielleicht das größte Verdienst von Marvin Harris. Denn Harris gehört zu den wenigen großen Popularisierern dieser Zunft.
Kulturmaterialismus

Marvin Harris
Dies nicht selten zum Leidwesen seiner Kollegen. Zumal Harris nicht nur die Ethnologie einem weiteren Kreis bekannt zu machen suchte, sondern v.a. das von ihm favorisierte Theoriengebäude, welches seiner Meinung nach all ihre Fragen beantwortete: den ¿Kulturmaterialismus¿. Dass er dabei mit Spott und Polemik nicht sparte, machte ihn nicht beliebter.

Vereinfacht gesagt ist der Kulturmaterialismus eine Theorie, die kulturelle und soziale Erscheinungen stets aus praktischer Notwendigkeit ableitet. Danach haben etwa spezifische Nahrungstabus wie in Judentum, Islam und Hinduismus oder die Menschenopfer der Azteken ihre Ursprünge in den jeweiligen technisch-ökologischen Eigenschaften dieser Gesellschaften.

Die in Stammesgesellschaften verbreitete Praktik des ¿weiblichen Infantizid¿, der Tötung weiblicher Neugeborener wiederum erklärt sich als Mechanismus zur Regulierung der Bevölkerungsdichte.
Reduktionismus
Übermäßig zu vereinfachen und die Sphäre der kulturellen Phänomene auf ein karges Set materieller Determinanten einzuengen, ist allerdings auch der Vorwurf, der Harris aus den Reihen der eigenen Disziplin am häufigsten traf.

Und gewiss schoss Harris oft über¿s Ziel hinaus. So etwa indem er die Menschenopfer der Azteken (die diese im 15. Jahrhundert zu einer wahren sakralen Industrie ausweiteten) aus der Proteinarmut des mexikanischen Hochlands erklärte. Generell dürfte der Kulturmaterialismus die Autonomie der kulturellen Sphäre unterbewerten.

Andererseits vervollständigte er das materialistische Interpretationsgebäude um die ökologische Komponente.

Weiters eröffnete er der allzu sehr auf die lokale Besonderheit fixierten Ethnologie wieder die Augen für die großen Regularitäten in der Entwicklung menschlicher Gesellschaften. Man denke an die zahlreichen Gleichartigkeiten der in Kleinasien, China und Mittelamerika unabhängig voneinander verlaufenden "neolithischen Revolution". Und schließlich bleibt Vereinfachung Bestandteil jeder Erklärung.
Unterhaltsamer Provokateur
Materialistische (darunter v.a. evolutionistische) Deutungen kultureller Entwicklungen sind seit ihren Anfängen vorhanden, Bestandteil der Anthropologie und auch heute nicht mehr aus ihrem Repertoire wegzudenken. Auch die ökologische Perspektive hat heute einen fixen Platz eingenommen.

Was von Harris aber in erster Linie bleiben duerfte, ist - etwa mit Büchern wie ¿Kannibalen und Könige¿ - der Kulturanthropologie ein Publikum auch außerhalb des akademischen Elfenbeinturms gewonnen zu haben.

Wohl auch die Erinnerung an einen unterhaltsamen Provokateur und Verfechter konzeptioneller Geschlossenheit. Vielleicht eines der größten Verdienste, das man in der so heillos zersplitterten Wissenschaft erlangen kann.
->   Biographie von Marvin Harris
->   Marvin Harris's Cultural Materialism
->   Marvin Harris, 1989: Kulturanthropologie
 
 
 
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