Host-Info
Franz Seifert
Freier Sozialwissenschaftler in Wien
 
ORF ON Science :  Franz Seifert :  Gesellschaft 
 
"Wann ist ein Mann ein Mann?" Russische Perspektiven  
  Eigentlich wollte mir Vera anfangs ja russisch beibringen. Aber weit bin ich nicht gekommen. Was ich sehr bedaure, denn der Klang dieser Sprache und die Besonderheit der russischen Menschen üben auf mich seit je einen besonderen Charme aus.  
Kulturelle Männlichkeitsmodelle
Aber schließlich verabreichte mir meine Zimmernachbarin am Grazer IAS-STS, die russische Kulturwissenschaftlerin Vera Gouchtchina, im Laufe unserer stundenlangen Unterhaltungen (auf Englisch) einen höchst interessanten Crash-Kurs in russischer Seele. Genauer gesagt, in männlicher russischer Seele.

Denn das, vor allem die zahlreichen Unzulänglichkeiten dieser männlichen Seele, ist ihr Fach. Vera beschäftigt sich hauptberuflich mit der männlichen Identität ("masculinity") der Russen, und deren Verbindung mit Arbeitsethos und Familienwerten.
Entwicklungshemmnis Mann
Zweifelsohne ist es schwierig, Behauptungen über eine Kultur aufzustellen, die sich nicht aus Klischees nähren, bzw. Gefahr laufen, Klischees zu nähren. Andererseits wird man die Kulturwissenschaften ernst zu nehmen lernen, wenn man sich etwas in sie vertieft, und zumindest mich hat Vera, die meine Einwände immer wieder mit einer Masse Daten, Erhebungen, hauptsächlich aber mit ihrer überlegenen Kenntnis russischer Kultur abschmetterte, überzeugt.

Vera nähert sich ihrem Untersuchungsgegenstand durch eine Vielfalt von Verfahren; von der vergleichenden Meinungsforschung und Linguistik bis zur Interpretation von Volksliedern sowie religiösen, literarischen und philosophischen Texten. Mit diesem reichen Fundus illustriert sie Identitätsmodelle, die, wie sie meint, seit Jahrhunderten das Leben der Russen bestimmen - und ihnen heute zum Verhängnis werden könnten.

Denn, so Vera, das Selbstbild des russischen Mannes und dessen sich an diesem ausrichtendes Verhalten ist weder kompatibel mit den Anforderungen einer freien Marktwirtschaft, noch ist es einem gerechten Verhältnis der Geschlechter oder auch nur einem halbwegs geregelten Familienleben zuträglich.
Entwicklungshemmnis Kultur
Weder unternehmerischer Erfolg innerhalb rechtlich geregelter Bahnen noch Verantwortlichkeit gegenüber Frau und Kind, so die Kulturwissenschaftlerin, sind mit diesem Männlichkeitsbild vereinbar.

Im Berufsleben neigen Männer entweder zu Fatalismus oder zur Delinquenz. Ersteres bringt sie nirgendwohin, letzteres ins Zuchthaus. Im Familienleben neigen sie zur Verflüchtigung, was die Zahl der alleinerziehenden Mütter auf einen internationalen Höchststand bringt.

Die Wurzeln dieses bejammernswerten Zustandes reichen ihrer Meinung nach Jahrhunderte zurück und hängen mit dem derzeit wieder stark auflebenden Einfluss der orthodoxen Kirche zusammen. Für deren Dogmatik ist das leibliche Wohl der Menschen so gut wie ohne Bedeutung. Und wo aber allein das Jenseits zählt, unterbleiben Bemühungen zur Gestaltung des Diesseits.
Die wahren Individualisten
Ferner hat der Lauf der russischen Geschichte - Vorherrschen von Bauerntum und Leibeigenschaft, Zentralismus, Vernichtung einer aufkeimenden bürgerlichen Gesellschaft durch Revolution und Totalitarismus, Militarisierung der Gesellschaft im kalten Krieg - das prekäre männliche Selbstbild weiter verfestigt.

Zu "seines Glückes Schmied" wurde ein Mann entweder auf militärischem Weg oder auf dem Weg des Regelbruchs. Der übrigens genießt durchaus zwiespältiges Ansehen. Schließlich waren die Regeln traditionell gegen das Volk gerichtet.

Soziales Ansehen kommt auch heute nicht dem verantwortungsvollen Familienvater noch dem erfolgreichen Geschäftsmann zu, sondern dem, der sich nimmt, was er will.
Faszinosum und Katastrophe
Kaum zu übersehen war, dass Vera nicht mochte, was sie so akribisch studierte. Der russische Mann war ihr Faszinosum und Katastrophengebiet gleichermaßen. Mitunter wies ich sie auch darauf hin, dass sie die zivilen Tugenden seines okzidentalen Geschlechtsgenossen vielleicht ein wenig idealisierte.

Woraufhin sie zugestand, dass auch das westliche Männlichkeitsbild durchaus seine Schwachstellen habe. Vor allem ein weitverbreiteter Mythos war ihr bei ihren US-Aufenthalten aufgefallen - der vom westlichen "Individualisten".
Sozial angepasst
Dazu konnte sie nur den Kopf schütteln. Das sollen Individualisten sein? Nie zuvor waren ihr sosehr sozial angepasste Männer begegnet. Demgegenüber scheren sich ihre Landsmänner einfach nicht darum, wie sie zu sein haben. Sie tun einfach, was sie wollen. Ein sympathischer Zug, dachte ich.
...
Vera Gouchtchinas Aufsatz wird voraussichtlich im Yearbook 2002 of the Institute for Advanced Studies on Science, Technology and Society erscheinen.
...
 
 
 
ORF ON Science :  Franz Seifert :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick