Host-Info
Franz Seifert
Freier Sozialwissenschaftler in Wien
 
ORF ON Science :  Franz Seifert :  Leben .  Gesellschaft 
 
Wissenschaft und Öffentlichkeit: Wer gehört wird und wer nicht.  
  Über die Gesetzmäßigkeiten, die das Verhältnis von Öffentlichkeit und Wissenschaft bestimmen, wird neuerdings viel gerätselt, diskutiert und Neues herausgefunden. Doch manche Grundsätze dürften sich wohl stets gleich bleiben.  
The Mystic Masseur
Neulich kam mir wieder ein Roman von V.S. Naipaul unter. Er hieß "The Mystic Masseur" und spielt auf Trinidad, der Heimatinsel des Autors, inmitten der dort ansässigen indischen Minorität. Es ist die Geschichte eines Mannes aus ärmlichen, geringgeachteten Verhältnissen, der allerdings fest an seine "Mission" glaubt, auch wenn ihm deren Ziel selbst noch unklar ist. So beschließt er, ein Buch zu schreiben.

Das ist unter der großteils schriftunkundigen Bevölkerung Trinidads der vierziger Jahre etwas ganz und gar Abwegiges und ungläubig Bestauntes. Und doch, nach endlosen Mühen, Entbehrungen und Krisen erreicht unser Held, was er will. Er veröffentlicht sein Buch, eine Thesensammlung zum Hinduismus.

Zwar liest es kein Mensch, und das wenige, das der Romanleser daraus erfährt, lässt den Schluss zu, dass man da auch nichts versäumt. Aber gemeinsam mit seinem sich verbreitenden Ruf, über Wunderheilkräfte zu verfügen, legt das Buch den Grundstein für seine spätere politische Karriere.
Öffentlichkeit und Macht
Mir ist noch nie (auch nicht in der Soziologie eines Pierre Bourdieu) eine präzisere und klarsichtigere Abhandlung über den unentwirrbaren Zusammenhang von Öffentlichkeit, Macht und öffentlichkeitsabhängiger Karrieretypen (wie die Intellektueller, Künstler, Politiker) untergekommen. Wieder einmal deutlich wurde dabei vor allem eines:

Nur ganz wenige erhalten, sei es durch Zufall oder strategisches Geschick, die Chance zu öffentlichen "Stimmen" zu werden. Immer aber stehen hinter diesen Stimmen komplexe Strukturen aus Institutionen, Interessen und einem mehr oder weniger "gläubigen" Publikum. Ob man gehört wird oder nicht, hängt in erster Linie von diesen Strukturen ab, gewiss nicht davon, ob man "etwas zu sagen hat".
Wissenschaftsmarketing
Was das mit Wissenschaft zu tun hat? Nun, mittlerweile hat sich ja herumgesprochen, dass Wissenschaft mehr denn je unter Legitimationsdruck steht. Das hängt mit unser aller Abhängigkeit vom technologisch-wissenschaftlichen System zusammen, mit dessen ungeheuren Kosten und Gewinnchancen sowie seiner zentralen Rolle in internationalen Innovationswettläufen von Unternehmen, Staaten und ganzen Weltregionen.

Jedenfalls muss sich die Wissenschaft heute - so wie der Rest der Welt - "verkaufen" können. Und dieser Handlungsdruck eines immer gewichtiger werdenden Systems generiert neue öffentlichkeitsabhängige Karrieretypen.

"Wissenschaftsvermittlung" und "Risikokommunikation" ist gefragt, Gentechnik-Ausstellungen tingeln durchs Land, man veranstaltet aufwendige "science-weeks", Scharen von Sozialwissenschaftlern und Ethikern erklären die Welt oder geben sich anspruchsvoll ratlos.
Die im Schatten sieht man nicht
Doch bei aller sich um die Wissenschaft aufbauenden Lautstärke und Kakophonie sei hier auf jene Seite hingewiesen, die über keine Artikulationsmöglichkeiten, keine Hintergrundstrukturen verfügt, auf die, die man nicht zu Gehör und Gesicht bekommt.

Immer bildet diese Seite die große Mehrheit, immer ist sie von den Entscheidungen derer, die über "Stimme" verfügen, betroffen und abhängig, immer ist ihr Schweigen strukturell bedingt, und nicht etwa durch den Umstand, dass sie "nichts zu sagen" hätte. Die positive Geltung, die der Begriff "Öffentlichkeit" in der westlichen Kultur genießt, verdankt sich unserem Glauben an ihre "Offenheit", an ihr Vermögen, auch den Stummen eine "Stimme" zu verleihen.

Die gesellschaftliche Realität aber ist hier, wie auch anderswo, in erster Linie durch Macht bestimmt. Dieser Hinweis ist gewiss keiner auf eine neue wissenschaftliche Erkenntnis. Doch erschien er angesichts der neuen, den öffentlichen Raum beherrschende Inhalte und Akteure angebracht.
->   Ulrich Körtner: Wissenschaft und Öffentlichkeit
->   Sämtliche Artikel von Franz Seifert in science.ORF.at
 
 
 
ORF ON Science :  Franz Seifert :  Leben .  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick