Host-Info
Franz Seifert
Freier Sozialwissenschaftler in Wien
 
ORF ON Science :  Franz Seifert :  Gesellschaft 
 
Neugier  
  ...kann nicht mehr schaden. Eine Fabel  
Seid neugierig!
Lernt, sammelt Informationen, Daten, Erfahrungen, Kompetenzen, erfindet, erneuert, entdeckt, entwickelt euch, lebenslang und unter ganzer Aufbietung eurer Energien. Seid nicht bloß bereit für das Neue, um euer Überleben darin zu sichern. Giert nach ihm! Beteiligt euch an seiner Erzeugung!
Das Geheimnis der Unsterblichen
Man beachte: Die Aufforderung zur Neugier ist etwas historisch vollkommen Neues. Die längste Zeit stand Neugier unter Strafe. Die Überlieferung nannte die Gründe: Lots Weib hätte sich besser nicht umgedreht, Pandoras Büchse wäre besser ungeöffnet geblieben, die verbotene Frucht besser unberührt geblieben ...

Einst konnte Neugier katastrophale Folgen haben. Erregten die Neugierigen den Zorn der Unsterblichen, vernichteten diese nicht nur sie. Sie schlugen auch ihre Sippe, ihre Nachkommen, ihre Art. So war Neugier eine Sünde und das Geheimnis der Unsterblichen blieb neugierigen Blicken verborgen.
Der Sieg der Neugier
Schließlich aber, in einem einzigartigen historischen Vorgang, der keine 500 Jahre dauerte, wandte sich das Blatt. Manche Neugierige, die sich mit sonderbarer Leidenschaft damit beschäftigten, eine um die andere Schicht von den Überlieferungen abzutragen, um darunter Neues zu entdecken, erzielten spektakuläre Erfolge in Kosmologie, Technik und Medizin.

In dem Maß, wie der Mensch mithilfe ihrer Landkarten, mechanischen Prinzipien und hygienischen Verhaltensvorschriften Macht über das Diesseits gewann und sich die Welt unterwarf, erkannte man den Irrtum. Neugier war keine Sünde. Sie war eine nützliche Tugend.

Für die Unsterblichen und die von ihnen aufrechterhaltene Ordnung bedeutete dieser Statusgewinn der Neugierigen eine Katastrophe. Ihre Welt liegt heute in Trümmern. Bloß Kinder fürchten sich heute noch vor ihnen.
Neuerungsmaschinen
Seitdem sich die Auffassung durchgesetzt hat, dass neues Wissen den Traditionen und Überlieferungen stets überlegen und daher vorzuziehen sei, seitdem westliche Gesellschaften von Vergangenheits- auf Zukunftsbestimmtheit umgestellt haben, ertrinkt die Welt in einer Flut an Neuem.

Alles neue Erfindungen: Wissenschaft, Markt, Revolution, liberale Demokratie, moderne Kunst, bürgerliche Freiheiten, Massenmedien, Denkwerkstätten, Innovationscluster, Patentrechte, Psychoanalyse, Individualisierung, Digitalisierung ... Alles Neuerungsmaschinen.
Neugierige Systeme
Man beachte außerdem: Es sind Institutionen, Organisationen, Gesellschaften, kurz: soziale Systeme, die neugierig geworden sind. Die Gier nach dem Neuen ist ihr Leitmotiv, die industrielle Entdeckung, Hervorbringung und Verarbeitung von Neuem ihre bedeutendste Leistung.

Wir verdanken diesen Systemen alles. Die Verdoppelung unserer Lebensspanne und den unabsehbaren Möglichkeitsreichtum innerhalb dieser Lebensspanne. Mittlerweile haben die Systeme einen nie da gewesenen Organisations- und Differenzierungsgrad erreicht, erstrecken sich als innovative Produktions-, Kommunikations-, Finanz-, Transport- und Regelungssysteme über den Globus.
Autonome Systeme
Gegenwärtig gewinnt die (u.a. von Niklas Luhmann vertretene) Meinung Anhänger, diese Systeme bildeten eigene, von uns unabhängige Existenzformen, die sich selbst organisieren, selbst in Gang halten, selbst transformieren. Das erscheint vielen ebenso unfassbar und inakzeptabel wie einst die Idee, die Erde kreise um die Sonne oder der Mensch stamme vom Affen ab.

Doch scheint diese Anschauung so manches zu erklären. Etwa die rapide Komplexitätssteigerung dieser Systeme, von der niemand recht weiß, wohin - außer zu immer größerer Effizienz - sie führt. Oder den Umstand, dass die Systeme unseren Anordnungen nicht Folge leisten. Niemand will den Börsencrash, niemand die Massenarbeitslosigkeit. Beides entzieht sich unserer Steuerung.

Es scheint auch die tröstliche Tatsache unser aller Austauschbarkeit zu erklären. Die Systeme benötigen die Arbeitskraft unseres Bewusstseins. Doch können sie dieses jederzeit gegen ein anderes austauschen. Die Systeme benötigen unsere individuelle Existenz nicht, wir aber brauchen die Systeme.
Neugier kann nicht mehr schaden
Seid neugierig, lautet ihre Anordnung. Wir leisten ihr Folge, um in den Genuss ihrer Leistungen zu gelangen. Daher unterstützt unsere Neugier diese spezifischen Leistungen: Marktinnovation, Wissensproduktion, Kommunikation, Unterhaltung, Design, Therapie, Recht ...

Die Systeme sind neugierig und generieren einen unausgesetzten Strom neuer Wahlmöglichkeiten. Im Gegenzug konzentrieren wir unsere Neugier auf die von ihnen gestellten Aufgaben.

Seid neugierig! Eure Neugier kann keinen Schaden mehr anrichten.
Empfehlungen:
Helmut Willke (2002) Dystopia. Studien zur Krisis des Wissens in der modernen Gesellschaft. Suhrkamp: Frankfurt am Main

Jean-François Lyotard (1998) Eine postmoderne Fabel, in: derselbe "Postmoderne Moralitäten" Passagen Verlag: Wien, S. 81-97.
 
 
 
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