Host-Info
Helge Torgersen
Institut für Technikfolgen - Abschätzung, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien
 
ORF ON Science :  Helge Torgersen :  Gesellschaft .  Leben 
 
Warum wir so leicht die Gene überschätzen  
  Fast täglich wird über Gene berichtet, die "für" irgend eine Eigenschaft verantwortlich sind. Bertrand Jordan, französischer Genomforscher, warnt, dass die Bedeutung oft überschätzt wird. Dabei spielen die Gesetze einer individualistischen Mediengesellschaft eine Rolle.  
Missverständnisse und Vorschubleistung
Drei Mechanismen, die zu Missverständnissen und letztlich zu einer Überschätzung der Rolle der Gene führen, identifizierte Jordan in einem Vortrag am Institut für Technikfolgen-Abschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Dazu kommen drei Faktoren, die dem Vorschub leisten.
Sicheres und unsicheres Wissen
Missverstänsnisse entstehen erstens daraus, dass oft nicht zwischen etablierten, gut abgesicherten Befunden und unsicheren und in der Folge revidierten Hinweisen unterschieden wird. So zeigen zum Beispiel offizielle Kartierungen diejenigen Orte an Chromosomen, an denen bestimmte Gene "sitzen". Wie sicher diese Zuordnung ist, geht daraus aber nicht hervor. So entsteht der Eindruck, dass wir viel mehr und das viel genauer wissen als es tatsächlich der Fall ist.
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Gene auf dem X-Chromosom
Am X-Chromosom wurden neben vielen anderen beispielsweise drei Gene geortet, über die mit sehr unterschiedlicher Sicherheit etwas ausgesagt werden kann. Während das Hämophilie-A-Gen und die "dazugehörige" Krankheit gut bekannt sind und nach Men-del'schen Regeln vererbt werden, ist beim Gen für die Veranlagung zur manischen Depression weder die Krankheit ganz eindeutig definiert noch die Rolle des betreffenden Ortes auf dem X-Chromosom klar. Sicher scheint nur, dass bei der Erkrankung auch mehrere andere Gene (bzw. Orte auf anderen Chromosomen) sowie Umweltfaktoren eine entscheidende Rolle spielen. Der "Genort" für Homosexualität schließlich, 1993 mit viel Publizität in einer führenden Fachzeitschrift "bewiesen", konnte überhaupt nicht bestätigt werden, die Angabe ist also höchstens ein heute sehr stark in Zweifel zu ziehender vager Hinweis.
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Statistik und Determinismus
Zweitens wird insbesondere in populärwissenschaftlichen Meldungen oft nicht zwischen statistischen und deterministischen Zusammenhängen unterschieden. So wurde eine Studie, in der die Unterschiede in der Muskelmasse bei 60-70jährigen zu 25% durch Unterschiede im Geburtsgewicht erklärt wurden, in der Pressemeldung eines angesehenen Mediums so dargestellt, als ob die Muskelmasse beim Erwachsenen "durch die Gene vor der Geburt programmiert" wären.
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Das sogenannte Diabetes-Gen
Ein ähnliches Beispiel liefert ein Gen, mit dem eine Veranlagung zur Zuckerkrankheit einhergeht. Während "normale" Menschen ein Risiko von ca. 1% haben, an Diabetes zu erkran-ken, beträgt das Risiko für die Träger des betreffenden Gens 5%. Obwohl das Risiko also fünfmal höher ist, heißt das noch lange nicht, dass Träger des Gens an Diabetes erkranken werden, denn Lebensumstände und viele andere Faktoren spielen offensichtlich eine viel größere Rolle.
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Drittens werden oft unzulässige Verallgemeinerungen getroffen. In einer Studie über Mechanismen der Gedächtnisleistung wurde genetisch veränderten Mäusen beigebracht, zwischen zwei Orten zu unterscheiden. Diejenigen Tiere mit einer höheren Konzentration eines Hormonrezeptors "behielten" das Gelernte länger. Obwohl die Originalarbeit korrekt abgefasst war, wurde im letzten Satz behauptet, dass "hiermit eine Strategie zur Erhöhung von Gedächtnisleistung und Intelligenz bei anderen Säugetieren" aufgezeigt wurde - ungeachtet der Tatsache, dass Intelligenz eine schwer zu erfassende und von vielerlei genetischen Anlagen beeinflusste Größe ist und "intelligente" Wesen vor allem kulturell beeinflusst sind.
Die vermarktete Wissenschaft
Warum fallen wir so leicht in die Falle des genetischen Determinismus? Jordan macht drei Faktoren aus, die dem Vorschub leisten. Zum einen muss Wissenschaft heute in einem hohen Maße "verkauft" werden, um Mittel von Spendern, Fonds und vom Kapitalmarkt zu beschaffen. Aufmerksamkeit zu erregen wird so zu einer wichtigen Aufgabe. Wissenschaftler sind dabei oft nicht frei von Eitelkeit, wenn es um Publicity geht. Andererseits funktionieren Medien nach bestimmten Regeln; dabei geht es nicht ohne radikale Vereinfachungen ab, insbesondere bei Schlagzeilen, die Aufmerksamkeit erregen sollen. Oft wird auch bloß heiße Luft produziert oder die Bedeutung einer Entdeckung maßlos übertrieben, um Meldungen zu erreichen, die die Aktienkurse kurzfristig hochtreiben.
Verminderung von Komplexität
Zum anderen sind genetische Erklärungen nach dem Muster des Gens, das für irgend eine Eigenschaft "verantwortlich" ist, eine willkommene Vereinfachung in einer immer komplexer werdenden Welt. Dass das mit der Wirklichkeit wenig übereinstimmt, zeigt die Tatsache, dass das menschliche Genom aus nicht mehr als 30-40.000 Genen besteht - nur der Hälfte dessen, was vorsichtige Schätzungen noch vor kurzer Zeit veranschlagten. Die Vorstellung eines "verantwortlichen Gens" für jede Eigenschaft beim Menschen ist also ziemlich absurd. Worauf es anzukommen scheint, sind komplexe Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Proteinen, von denen man noch ziemlich wenig weiß.
Individualismus
Schließlich passt die Vorstellung, dass menschliche Eigenschaften genetisch festgelegt sind, in die heutige individualistische, auf persönliches Risiko abzielenden Mainstream-Ideologie, wonach sich die Gesellschaft um Benachteiligte nicht zu kümmern braucht. Wenn alles schon in den Genen festgelegt ist, wird jede Anstrengung, die auf einen Ausgleich abzielt, sowieso sinnlos. Gerade das Beispiel einer klassischen Erbkrankheit zeigt aber, dass die Gesellschaft eine Bringschuld hat: Bluter können mit den entsprechenden Gerinnungsfaktoren ein völlig normales Leben führen und haben das Recht auf entsprechende Präparate ohne Kontaminationen.
Ungleichheit als politische Entscheidung
Jordan sieht die Gefahr, dass inkorrekte und vorläufige Daten für die Klassifizierung von Menschen nach ihrem Genotyp missbraucht werden. Die Konsequenzen etwa angesichts einer zunehmenden Privatisierung bei der Krankenversicherung und bei der Auswahl von Kandidaten, die einen Job suchen, sind unabsehbar. Für Jordan ist Ungleichheit keine biologische Kategorie, sondern eine politische Entscheidung.

(HT)
->   Bertrand Jordan: Alles genetisch? Rotbuch Verlag
 
 
 
ORF ON Science :  Helge Torgersen :  Gesellschaft .  Leben 
 

 
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