Host-Info
Helge Torgersen
Institut für Technikfolgen - Abschätzung, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien
 
ORF ON Science :  Helge Torgersen :  Gesellschaft 
 
Überreaktion und langfristige Folgen
Grundrechte in Gefahr?
 
  Der Terroranschlag auf das WTC zeigte die Verwundbarkeit hoch entwickelter Gesellschaften und insbesondere die Unmöglichkeit, derartige Anschläge vorher zu sagen. Kann ein Mehr an Überwachung ein Mehr an Sicherheit bringen? Wenn ja, um welchen Preis?  
Kurz- und langfristige Folgen von Gegenmaßnahmen
Im Gefolge der Terroranschläge auf das WTC und das Pentagon drängt sich die Frage auf: Wie gehen zivilisierte Gesellschaften mit derartigen Bedrohungen um? Die verständliche, reflexartige Forderung einerseits nach Rache, andererseits nach mehr Sicherheit hat aber fatale Folgen.

Kurzfristig besteht die Gefahr von Vergeltungsschlägen und Reaktionen darauf, die unermessliches Leid über viele Unschuldige bringen werden. Mittel- und langfristig besteht aber auch die konkrete Gefahr, dass die Stärken offener Gesellschaften, ihre Vielfalt und die daraus resultierende Entwicklungsdynamik stark eingeschränkt werden.
Beschneidung der Grundrechte
Die Gefahr der Beschneidung von Grundrechten im Namen der Sicherheit wird im Folgenden am Beispiel des Schutzes der Privatsphäre diskutiert: Der Ruf nach mehr Sicherheit ist gleich bedeutend mit dem Ruf nach verstärkter Überwachung.

Schon jetzt werden viele Handlungen elektronisch abgewickelt und jeder Einzelne hinterlässt eine Menge von Datenspuren. Angefangen von den Kartenzahlungen an der Supermarktkassa, den Handygesprächen, der Internetnutzung, bis hin zu den vielen Videokameras im öffentlichen Raum. Die Privatsphäre - ein wichtiges Gut in demokratischen Gesellschaften - ist zunehmend bedroht.
Warum überhaupt Privatsphäre?
Wenn nun in Folge des Terrors die gesellschaftliche Stimmung in Richtung intensiver Überwachung und Kontrolle umschlägt, so wird diese Bedrohung nur stärker werden.

Der Schutz der Privatsphäre ist ein Grundrecht, das sowohl in Artikel 8 der Menschenrechtskonvention als auch in verschiedenen Grundrechtsdokumenten westlicher Gesellschaften festgeschrieben ist. Das zentrale Argument für die Wichtigkeit dieses Grundrechtes liefert der deutsche Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung über die "informationelle Selbstbestimmung".
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Informationelle Selbstbestimmung
"Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. (...) Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltung-schancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlich demokratischen Gemeinwesens ist." [BVerfGE, 65,1,42f]
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Zeitweise Einschränkung von Grundrechten
Selbst gut begründete und verbriefte Grundrechte stehen in Zeiten besonderer gesellschaftlicher Situationen auf dem Prüfstand. Die Frage ist, kann eine Gesellschaft zu ihrem Schutz die (zeitweise) Beschränkung von bürgerlichen Freiheiten hinnehmen? Wenn ja, wie lange und mit welchen Folgen?
Güterabwägung
In diesem Zusammenhang stellt sich notwendigerweise die Frage der Güterabwägung in Form von Ausgewogenheit von Zielen und Mitteln. Am Beispiel des Schutzes der Privatsphäre bedeutete dies konkret: Kann durch ein Mehr an Überwachung und Kontrolle ein Mehr an Sicherheit erzeugt werden und zu welchem Preis?
Sicherheit und Kontrolle
Theoretisch lässt sich das Sicherheitsniveau durch verstärkte Kontrolle zwar anheben, absolute Sicherheit ist aber nicht zu erreichen. In der praktischen Umsetzung zeigt ja gerade das gegenständliche Beispiel, dass selbst die besten Dienste mit umfangreichen Abhör- und Bespitzelungssystemen (von Satellitenaufklärung bis zu ECHELON) die Kommunikation im Vorfeld der Aktion nicht richtig zu deuten wussten und jedenfalls keine richtigen Schlüsse gezogen haben.

Wenn also das Ziel "Sicherheit für Leib und Leben der BürgerInnen" mit den ins Auge gefassten Mitteln (verstärkte Überwachung) nicht erreicht werden kann, damit aber gleichzeitig eine Grundrechtsbeschränkung einhergeht, wird diese wohl nicht zu verteidigen sein.
Übereinstimmung von Zielen und Mitteln
Ein weiteres Argument bezieht sich auf die logische Übereinstimmung von Zielen und Mitteln. Wenn es Ziel der Terroristen ist, demokratische Gesellschaften zu destabilisieren bzw. deren Werte anzugreifen, so kann es logisch nicht vertreten werden, dass zur Abwehr dieser Angriffe genau dies geschieht.

Man kann nicht Demokratie und Freiheit verteidigen, indem man bürgerliche Grundwerte beschneidet. Vielmehr müssten die Stärken offener, demokratischer Gesellschaften, ihre Vielfalt, Dialogkultur, Toleranz und Transparenz gefördert werden. Nicht das biblische Aug' um Aug', Zahn um Zahn, sondern nur ein positiver Gegenentwurf kann den Gegnern der Demokratie den Boden für ihr Tun entziehen.
Debatte um Grundrechte
Die hier dargelegten Argumente gelten natürlich auch für andere Grundrechte wie Versammlungsfreiheit, Unversehrtheit der Wohnung, Briefgeheimnis etc.; der Schutz der Privatsphäre dient nur als ein Beispiel. Insgesamt scheint es auch vor dem Hintergrund der neuen Qualität des Terrors angebracht, ein breite öffentliche Debatte über demokratische Grundrechte, Werte und Ziele zu führen.

Denn eines muss uns klar sein: die Festung kann nie unverwundbar gemacht werden, vielmehr müssen wir die Stärken offener Gesellschaften hervorheben. Die Verteidigung von Freiheit und Demokratie muss deren Grundwerte einbeziehen und darf nicht zum bloßen Anlass für restriktive Maßnahmen degenerieren.

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