Host-Info
Helge Torgersen
Institut für Technikfolgen - Abschätzung, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien
 
ORF ON Science :  Helge Torgersen :  Gesellschaft .  Technologie 
 
Biotechnologie: Die Jahre 1996-2000 und der transatlantische Graben  
  Fragen der Biotechnologie gelten als gesellschaftlich brisant, wobei in ganz Europa die Jahre 1996 bis 2000 entscheidend für das Verhältnis zur Öffentlichkeit waren. Eine neue Untersuchung über diese Zeit analysiert unter anderem, warum Einschätzung und Entwicklung der Biotechnologie in Nordamerika und Europa unterschiedlich sind.  
Schlüsselereignisse: Gentech-Lebensmittel und Dolly
In den Jahren 1996/97 fand eine deutliche Wende im Verhältnis zur Öffentlichkeit statt. Zwei wichtige Ereignisse sorgten für nationalen wie globalen Widerhall.

1996 wurden die ersten gentechnisch veränderten Landwirtschaftsprodukte in großem Stil aus den USA nach Europa importiert. In der europäischen Öffentlichkeit, die gerade eine Reihe von Lebensmittelskandalen hinter sich hatte, sorgten die transgenen Sojabohnen für neue Dimensionen in der schon bestehenden Kritik an der industrialisierten Landwirtschaft.

Wenige Monate später, im Jahr 1997, führte das Klon-Schaf "Dolly" binnen kurzem zu einer globalen Debatte über Moral und Ethik.

Life Sciences in European Society
"Trennung" von Medizin und Landwirtschaft
Mit diesen beiden Ereignissen überquerte die Biotechnologie, bildlich gesprochen, den Rubikon. Während wissenschaftliche und technische Innovationen immer schneller aufeinander folgten, wuchs parallel dazu die Kontroverse insbesondere in Europa.

Medizinische (die so genannte "rote") und landwirtschaftliche (die "grüne") Biotechnologie drifteten in bezug auf Regulierung, Berichterstattung und öffentliche Wahrnehmung immer weiter auseinander.
Neue Themen
Um Nahrungsmittel ist es heute stiller geworden; andere Themen stehen im Mittelpunkt wie das Klonen von Säugetieren, Stammzellen und die Frage, ob an menschlichen Embryonen geforscht werden darf.

Dauerbrenner sind das Verhältnis von Wissenschaft und Wirtschaft, das sich in der Patentfrage kristallisiert, und das gespannte transatlantische Verhältnis.

Eine öffentliche Kontroverse wie über Nahrungsmittel gab es bisher nicht, aber die Tragweite dieser Themen ist nicht geringer und Auseinandersetzungen sind zu erwarten.

Es lohnt daher, dem Verhältnis von Biotechnologie und Öffentlichkeit auf den Grund zu gehen, und dazu eignet sich eine Analyse der kontroversiellen "Wendejahre" 1996-2000.
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Biotechnology 1996-2000: the years of controversy
Eine kürzlich erschienene zeitgeschichtliche und sozialwissenschaftliche Untersuchung dieser Jahre, herausgegeben von George Gaskell und Martin W. Bauer von der London School of Economics, ist Ergebnis umfangreicher empirischer Forschung und eines langen Diskussionsprozesses von 50 Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen aus 14 europäischen Ländern, den USA und Kanada.

Auf der Grundlage von nationalen Fallstudien werden die politische Entwicklung, die Medienberichterstattung und die Hintergründe der öffentlichen Wahrnehmung der "Wendejahre" vergleichend untersucht.
->   Biotechnology 1996-2000: the years of controversy
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Der transatlantische Graben
Ein Kapitel beschäftigt sich mit den möglichen Gründen für die unterschiedliche Entwicklung der Biotechnologie in Nordamerika und Europa im Licht der Erkenntnisse aus den "Wendejahren".

Einer häufigen Interpretation zufolge ist der Unterschied in der Entwicklung der Biotechnologie diesseits und jenseits des Atlantiks, der mit dem Begriff des "transatlantischen Grabens" symbolisiert wird, ein Ergebnis aus öffentlichem Widerstand, NGO-Kampagnen und/oder Medienhysterie in Europa.
Ein Feld von Vorurteilen
Häufig geäußerte Erklärungen führen den Mangel an politischer Transparenz in Europa, die Medienpräferenz für Katastrophen und generelle Technikfeindlichkeit der Öffentlichkeit an.

Eine genauere Betrachtung zeigt allerdings, dass z.B. transparente Politik (wie sie, so das Argument, in den USA herrsche) kaum ein Garant für die reibungslose Einführung einer neuen Technologie ist.

Gleichfalls deutet wenig darauf hin, dass die europäischen Medien nur über mögliche Nachteile der Biotechnologie geschrieben hätten oder dass die europäische Öffentlichkeit neuen Technologien gegenüber grundsätzlich feindlich eingestellt sei.

Auch war die BSE-Krise nicht der Grund für die europäische Zurückhaltung gegenüber der grünen Biotechnologie.
Riesenschritte in den USA
Einige andere Erklärungen haben mehr für sich. Nordamerika hatte im Vergleich zu Europa einen deutlichen Vorsprung in der Entwicklung der Biotechnologie.

Es gab früh entwickelte Netzwerke und Infrastrukturen sowohl für die Forschung als auch für die Verwertung der Ergebnisse in industriellen Anwendungen.

Gerichtsurteile führten dazu, Biotechnologie als normal anzusehen, was die Patentmöglichkeit förderte. Es gibt außerdem eine Innovationskultur, die großes Vertrauen in die (technische) Lösbarkeit neuer Probleme setzt.
Europäische Komplexität
Europa begann später mit der Entwicklung der Biotechnologie und die Industrie und Universitäten sind weniger vernetzt.

Biotechnologie wurde außerdem als neuartig angesehen, woraus sich Bedarf an neuen Regelungen ergab. Verschiedene Länder erließen eigene Gesetze und sahen sich dann mit den Herausforderungen des sich bildenden europäischen Mehrebenen-Systems konfrontiert.

Bedenken bezüglich Langzeit-Effekten von gentechnisch veränderten Organismen auf die Umwelt und menschliche Gesundheit (letztere nicht ganz unverwandt zu denen im Gefolge von BSE und anderen Skandalen) führten u.a. zur Aufnahme des Vorsorgeprinzips.
Zwänge der Landwirtschaft
Die größten Unterschiede bestehen in der Landwirtschaft. In Nordamerika gilt die grüne Biotechnologie als Weg, Stückkosten zu senken, die Produktivität zu erhöhen und den Export zu beleben, um Problemen der Marktsättigung und Einkommensverlusten der Farmer zu begegnen.

Europa will die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (CAP) vorantreiben und die Subventionen für die Landwirtschaft zurückfahren; andererseits ist der soziale und politische Druck groß, den landwirtschaftlichen Sektor zu erhalten.

Gentechnisch veränderte Nutzpflanzen und die damit erwartete Produktivitätssteigerung waren daher keine politisch erwünschte Entwicklung.
Unterschiedliche Stile der Berichterstattung
Amerikanische und europäische Medien unterscheiden sich in wichtigen Aspekten. Im nordamerikanischen Verständnis schreiben Journalisten "die Wahrheit", und die Leser erwarten das auch bzw. nehmen Berichte dementsprechend auf.

In Europa sind die Zeitungen eher Meinungsträger, oft mit expliziter politischer Färbung. Im Fall der Biotechnologie verallgemeinerte die nordamerikanische Presse zu einem gewissen Grad die Perspektive der Industrie. In Europa gab es eine größere Vielfalt der Darstellung und mehr Themen wurden angesprochen.

Außerdem stehen europäische Presseerzeugnissen unter größerem Wettbewerb, der als Ansporn dient, eine Geschichte anders anzugehen, aber auch zu Sensationsberichten führt.
Manche Bedenken in Nordamerika, hohe Risikowahrnehmung in Europa
Die europäische Öffentlichkeit ist zwar etwas weniger enthusiastisch über den Beitrag, den Technologie zum täglichen Leben leistet als die Nordamerikaner.

Trotzdem sind die Unterschiede nicht so groß wie man meinen könnte. Auch in den USA und in Kanada gibt es eine beträchtliche Minderheit, die die Auswirkungen der Biotechnologie pessimistisch beurteilt, und während zwar die Europäer grüne Biotechnologie im Schnitt ablehnen, gibt es doch eine solide Unterstützung für die rote.

Was wesentlich zu den transatlantischen Unterschieden beiträgt ist die größere Überzeugung vom Nutzen der grünen Biotechnologie in Nordamerika gegenüber mehr Bedenken in bezug auf Risiken, die damit in Europa assoziiert werden.
Europas NGOs: Gunst der Stunde
Obwohl europäische NGOs erfolgreich den Widerstand gegen die grüne Biotechnologie mobilisieren konnten, waren sie nicht die Urheber der Bedenken, die Umfragen ja bereits 1991 ergaben, als von einem breiten Engagement seitens der NGOs noch nichts zu bemerken war.

NGOs nutzten also bereits bestehenden, allerdings nur undeutlich artikulierten Widerstand, verstärkten diesen über die Jahre und formten ihn in eine politische Bewegung um.
Keine simple Erklärung
Offenbar hat die rasche Entwicklung der Biotechnologie in Wissenschaft und Technik sehr komplexe Folgen auf viele miteinander vernetzte Aspekte des öffentlichen Raumes, sowohl in Nordamerika als auch in Europa.

In Verbindung mit den Unterschieden in Wirtschafts-, Rechts- und Finanzstruktur trug dies zu den Unterschieden in der Technologieentwicklung, in der Regulierung, in der Berichterstattung der Medien und in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit bei.

Bloß einzelne Gründe dafür verantwortlich zu machen ist verfehlt, so attraktiv das auch für rhetorische und andere Zwecke erscheinen mag.

HT
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Ende der Kontroverse?
Das Ende der Kontroverse dürfte noch lange nicht erreicht sein, zu viele Themen der Biotechnologie bergen gesellschaftlichen Sprengstoff.

Wie es mit dem Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und Biotechnologie weitergehen könnte, ist Gegenstand einer Podiumsdiskussion am Dienstag, den 29.1.2002, um 10 Uhr 30 im ORF RadioCafé unter dem Titel "Gentechnik: Ende der Kontroverse?"
->   Mehr dazu im science-Gastbeitrag von Barbara Streicher
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->   Sämtliche Beiträge von Helge Torgersen bzw. vom Institut für Technikfolgen-Abschätzung in science.orf.at
Mehr zum Thema Biotechnologie in science.orf.at:
->   EU-Kommissionspräsident: EU soll Biotechnologie offensiv fördern
->   Pharmabranche setzt auf Biotechnologie
->   Franz Seifert: Biotechnologie und Öffentlichkeit
 
 
 
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