Host-Info
Heidemarie Uhl
Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften
 
ORF ON Science :  Heidemarie Uhl :  Gesellschaft 
 
27. Jänner: Tag des Gedenkens an Holocaust  
  27. Jänner? Damit wird in Österreich - zumindest im Mozartjahr 2006 - vor allem der 250. Geburtstag des Jahresregenten assoziiert: Es ist kein Zufall, dass dieses Datum für die Salzburger Konferenz "Sound of Europe" gewählt wurde.  
Bei diesem Highlight der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft sollen - so der Pressetext - "grundlegende Fragen der Zukunft Europas, der europäischen Werte, Identität und Kultur" erörtert werden - mit dem Ziel, Europa durch Kunst und Kultur "zum Klingen" zu bringen.
Statt Mozart ...
"Europa zum Klingen bringen" - das soll offenkundig der österreichische Beitrag zur Suche nach der Seele, der Identität, dem Gedächtnis Europas sein, der sich nahezu jede EU-Ratspräsidentschaft verpflichtet fühlt.

Österreich hat hier offenkundig eine besondere Aufgabe zu erfüllen - die Umfragen des EU-Barometer zeigen das Land regelmäßig als Schlusslicht im Hinblick auf die Begeisterung für das Projekt der Europäischen Integration.
... Auschwitz gedenken
Außerhalb Österreichs verbindet sich mit diesem Gedenktag allerdings ein ganz anderer historischer Bezugspunkt - die Befreiung des KZ Auschwitz am 27. Jänner 1945. In Deutschland wird dieser Jahrestag seit 1996 als nationaler Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus begangen.

Vor wenigen Monaten wurde der 27. Jänner nun von der UN-Generalversammlung zum "Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust" bestimmt.
Tag, der an die Zukunft adressiert ist
Die Begründung dieser Resolution zeigt exemplarisch, dass dieser Gedenktag - wie alle Gedächtnisorte - vor allem an die Gegenwart und Zukunft adressiert ist: Die Erinnerung an den Holocaust soll als "Warnung vor den Gefahren von Hass, Intoleranz, Rassismus und Vorurteil" dienen, Diskriminierungen aufgrund von ethnischer Herkunft oder religiöser Überzeugung entgegenwirken, entschiedenes Auftreten gegen gegenwärtige Genozide motivieren.

Dies betont der renommierte Historiker Jehuda Bauer, einer der Initiatoren der Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research (ITF), in seiner Rede vor der UNO zum erstmals begangenen "United Nations Holocaust Memorial Day".
->   United Nations Holocaust Memorial Day
Gedächtnis von Europa verändert sich
Mit der Holocaust-Erinnerung verbindet sich aber auch ein grundsätzlich neues Verständnis hinsichtlich der Funktion von Gedächtnis - insbesondere in Europa:

Nach 1945 hatte jeder Staat seine Variante des europäischen Nachkriegsmythos entwickelt, dessen gemeinsames Erzählmuster darauf hinauslief, dass die "eigene" Bevölkerung zum Opfer der grausamen Unterdrückung fremder Machthaber geworden sei, die Schuld an den NS-Verbrechen wurde in der Regel auf Deutschland projiziert.

In Österreich war dies bekanntlich durch die die These vom "ersten Opfer" des Nationalsozialismus der Fall.
Perspektivenwechsel von Opfer und Täter
Ende der 1980er Jahre begann - und dies ist ebenfalls ein gesamteuropäischer Prozess - ein Perspektivenwechsel einzusetzen: Die Frage nach der Verstrickung in den NS-Herrschaftsapparat evozierte gesellschaftliche Grundsatzdebatten in vielen europäischen Ländern.

In diesem Rahmen hat sich eine neue Form des Erinnerns entwickelt, die Volkhard Knigge, Leiter der Gedenkstätte Weimar/Buchenwald, als negatives Gedenken bezeichnet: die Erinnerung an das, was "wir" anderen angetan haben, und nicht, wie in der nationalen Gedächtnispolitik üblich, an das, was andere "uns" angetan haben.
Auschwitz: Radikale Antithese zu Demokratie
Im Zentrum dieses negativen Gedenkens steht der Holocaust. Dabei geht es nicht darum, die Leidenserfahrungen anderer Opfergruppen aus-, sondern vielmehr einzuschließen.

Der Holocaust markiert eine in die Geschichte der Moderne eingeschriebene Möglichkeit, gewissermaßen ihre tiefste Wunde, einen "Zivilisationsbruch" in der Entwicklung der modernen Gesellschaft.

Der 27. Jänner erinnert an die radikalste Antithese zu den Werten von Demokratie und Menschrechten, auf denen auch die Europäische Union beruht.
Aus der Mitte der Gesellschaft durchgeführt
Europäischen Gedächtnis wird aber nicht durch Deklarationen und politische Reden bestimmt, sondern durch seinen Resonanz in der gesellschaftlichen Praxis des Erinnerns.

Auf diese Resonanz verweisen nicht allein die Denkmäler für Opfer des NS-Regimes, die in den urbanen Zentren Europas in den letzten Jahres entstanden ist. Die Erinnerung an den Holocaust ist nach wie vor der Stachel im Selbstverständnis der Gegenwart.

Sie berührt, irritiert, verunsichert gerade deswegen, weil dieses Verbrechen aus der Mitte unserer Gesellschaft vorbereitet, geplant und durchgeführt wurde.

[27.1.06]
->   UNO-Resolution "Gedenken an den Holocaust" (pdf-Datei)
->   ITF
->   Alle Beiträge von Heidemarie Uhl in science.ORF.at
 
 
 
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