Host-Info
Heidemarie Uhl
Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften
 
ORF ON Science :  Heidemarie Uhl :  Gesellschaft 
 
Holocaust: Zwei Erinnerungskulturen in Europa?  
  Gibt es in Europa eine Differenz der Erinnerungskulturen, die die ehemaligen Grenzen zwischen "West"- und "Osteuropa" kulturell reproduziert? Ein Blick auf den Kampf um die Erinnerung in den Ländern des ehemals kommunistischen Herrschaftsbereichs legt dies nahe. In den osteuropäischen Ländern stehen vielfach die Opfer der kommunistischen Diktatur im Vordergrund gesellschaftlicher Erinnerung, während die Opfer der NS-Gewaltherrschaft den deutschen Machthabern zugeschrieben werden - also nicht zur "eigenen" Geschichte gehören.  
Demgegenüber wurde der Holocaust in vielen westeuropäischen Staaten zum Leitmotiv einer neuen Erinnerungskultur.
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Tagung: "Overlapping Histories"
Diese Konstellation bildet den Ausgangspunkt der Tagung "Overlapping Histories - Conflicting Memories. The Holocaust and the Cultures of Remembrance in Eastern and Central Europe", die vom 24.-25. April 2006 in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften stattfindet.
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Zerbrechen der Nachkriegsmythen
Gegenwärtige Initiativen der Holocausterinnerung sind vor dem Hintergrund einer tief greifenden Transformation der gesellschaftlichen Erinnerungskultur zu sehen.

Seit den 80er Jahren lässt sich ein (west-)europäischer Prozess der Neuorientierung der Vergangenheitspolitik im Hinblick auf den Ort von Nationalsozialismus und Holocaust im kollektiven Gedächtnis beobachten.

Tony Judt spricht in seinem viel beachteten Essay "Die Vergangenheit ist ein anderes Land. Politische Mythen im Nachkriegseuropa" vom Zerbrechen der Nachkriegsmythen - jener Geschichtserzählungen, die seit 1945 die Diskurse, Bilder, Symbole und Rituale der Erinnerung an Krieg, Nationalsozialismus und Holocaust bestimmt hatten.
Gemeinsame Signatur: Projektion der Schuld
Wenngleich jeweils unterschiedliche nationale Ausprägungen dieser Nachkriegsmythen zu verzeichnen sind, so ist ihnen doch einen gemeinsame Signatur zu eigen:

Das "eigene Volk" als unschuldiges Opfer grausamer Unterdrückung durch einen feindlichen Aggressor zu zeigen, gegen den sich dennoch heroischer Widerstand regte, und die Frage der Schuld an den Verbrechen des NS-Regimes auf Deutschland zu projizieren.

Mit der Konstruktion einer Gesellschaft, die nicht in den Nationalsozialismus verstrickt war, erfüllten diese Geschichtserzählungen eine nicht zu unterschätzende Funktion in der Integration einer politisch zutiefst gespaltenen Gesellschaft; dies war allerdings nur durch die Verdrängung bzw. Leugnung des eigenen Anteils an den NS-Verbrechen möglich - die "Opferthese" ist gewissermaßen die österreichische Variante der europäischen Nachkriegsmythen.

In diesem Kontext war das Gedenken für die Opfer der NS-Vernichtungspolitik zumeist eine "ungeliebte Erinnerung", war damit doch der Verweis auf Schuld und Mitverantwortung bzw. auf konkrete Täter, oftmals aus dem lokalen Umfeld, verbunden.
Zwei Sichtweisen: Fremdherrschaft und Involvierung
Das Zerbrechen dieser Nachkriegsmythen erfolgte nicht zufällig erst Jahrzehnte nach 1945, als eine in den Nationalsozialismus nicht direkt involvierte Generation neue Fragen an die Vergangenheit stellte - gerade im Hinblick auf die bislang ausgeblendeten Verbrechen des NS-Regimes.

Dabei trafen zwei Sichtweisen aufeinander: Jene, die im Sinne der Nachkriegsmythen davon ausging, dass der Nationalsozialismus eine aufgezwungene Fremdherrschaft war, und jene, die nach der Involvierung der eigenen Gesellschaft in den NS-Herrschaftsapparat und in die Verbrechen des NS-Regimes fragte.

Der deutsche Historikerstreit, die Waldheimdebatte, der Konflikt um Jedwabne - um nur einige Beispiele zu nennen - haben nicht nur in den jeweiligen Ländern zu gesellschaftlichen Grundsatzdebatten über das Gedächtnis der Nation geführt, sondern auch das Interesse einer internationalen Öffentlichkeit geweckt.

Denn was in diesen Debatten verhandelt wird, ist - wie Jan Assmann in seiner Theorie des kulturellen Gedächtnisses hervorhebt - nicht vorrangig die Vergangenheit selbst, sondern es sind die Grundwerte der gegenwärtigen politischen Kultur.
Neuausrichtung: Auschwitz als negativer Bezugspunkt
Mittlerweile hat sich in diesen vergangenheitspolitischen Auseinandersetzungen vielfach die Neuausrichtung der Erinnerungskultur auf den "Zivilisationsbruch Auschwitz" (Dan Diner) durchgesetzt, als Bezugspunkt eines "negativen Gedächtnisses", der "öffentlichen Erinnerung an begangene, nicht an erlittene Untaten" (Volkhard Knigge).

Bislang ausgeblendete Fragen nach der "guilt of nations" (Elazar Barkan), nach Schuld und Mitverantwortung an Verbrechen, die im Namen eines Kollektivs begangen wurden, rückten in den Vordergrund.

Darauf verweisen insbesondere auch Initiativen im Feld der Gedächtniskultur, etwa die Realisierung der Denkmalprojekte für die Opfer des Holocaust in Wien und Berlin, aber auch die - späten - Maßnahmen zur materiellen Entschädigung und Wiedergutmachung.
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Offizieller Perspektivenwechsel
Vor diesem Hintergrund ist auch die Gründung von transnationalen Initiativen wie der Holocaust Task Force zu sehen, im Zuge derer der Holocaust als "die tiefste Wunde der westlichen Zivilisation" (Andreas Huyssen) begriffen wird. Der Perspektivenwechsel auf die NS-Vergangenheit hat auch die offizielle Vergangenheitspolitik verändert - nicht nur in Österreich erfolgte eine offizielle Anerkennung der Mitverantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes von Seiten der Regierung.
->   Holocaust Task Force
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Konflikte von Erinnerungen
Allerdings: Die vielfach konstatierte Universalisierung der Holocaust-Erinnerung hin zu einem globalen Gedächtnisort (Daniel Levy/Natan Sznaider) verläuft keineswegs so zielgerichtet, wie es der retrospektive Blick auf die Entwicklung in Deutschland und anderen (west-)europäischen Ländern erscheinen lässt.

Die Holocaust-Erinnerung sieht sich in den postkommunistischen Gesellschaften Europas vielmehr mit neuen Herausforderungen konfrontiert. In vielen Ländern wird der Kampf um das Gedächtnis noch mit aller Vehemenz ausgetragen.

Die Auseinandersetzung mit den sich überlagernden Vergangenheiten des Nationalsozialismus und des Kommunismus ("overlapping histories"), führt zu "conflicting memories". Wobei - und dies ist wohl für die Frage nach einer europäischen bzw. globalen Erinnerungskultur der wesentlichste Aspekt - der Nationalsozialismus vielfach durch den Vergleich mit dem kommunistischen System relativiert wird.
Neue Grenze zwischen Ost und West?
Deutet sich damit eine neue Ost-West-Grenzziehung im Hinblick auf eine Trennlinie zwischen den Erinnerungskulturen an, die auf tief greifende Unterschiede in der politischen Kultur der Europäischen Union verweisen?

Welche Repräsentation findet der Kampf um die Erinnerung etwa in Gedenkfeiern, Museen, der Gestaltung von Gedenkstätten, im Geschichtsunterricht, aber auch im wissenschaftlichen Diskurs? Welche Rolle spielen dabei nach wie vor virulente antisemitische Einstellungsmuster?

Und: Wie wirkt sich dieser Kontext auf die gegenwärtige Praxis und vor allem auch auf die Zukunft von Holocausterinnerung aus?

Neben der Analyse der "conflicting memories", die für die politische Kultur in den ost- und zentraleuropäischen Ländern signifikant sind, versucht die Konferenz auch zwischen der Praxis der Holocaust Education bzw. Remembrance und der wissenschaftlichen Erforschung der Erinnerungskultur zu vermitteln.

[21.4.06]
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Gemeinsame europäische Erinnerungskultur fehlt (20.1.06)
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