Host-Info
Heidemarie Uhl
Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften
 
ORF ON Science :  Heidemarie Uhl :  Gesellschaft 
 
Holocaust-Gedenktag: Zeichen für Wandel der Erinnerung  
  Im November 2005 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen den 27. Jänner, den Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz im Jahr 1945, zum Internationalen Holocaust-Gedenktag erklärt. In Deutschland und vielen anderen, nicht nur europäischen Ländern ist dieser Tag zu einem Fixpunkt im jährlichen Gedenkkalender geworden.  
In den Haushalt des österreichischen Gedächtnisses hat der 27. Jänner bislang praktisch keinen Eingang gefunden: Österreich hat sich 1997 für den 5. Mai, den Tag der Befreiung des KZ Mauthauen, als Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus entschieden.
Österreich will sich vom "großen Bruder" unterscheiden
Damit sollte vor allem auch ein Unterschied zu Deutschland markiert werden, wo ein Jahr zuvor der 27. Jänner als Gedenktag beschlossen worden war. Insofern ist die Wahl des 5. Mai auch ein Ausdruck nationaler Befindlichkeit:

Die Differenz zum "großen Bruder" zu markieren zählt zu den geläufigen politischen Traditionen der Zweiten Republik, was allerdings eher auf Provinzialität verweist denn auf die Gelassenheit einer selbstsicheren Nation.
Gedächtnis - ein zentraler Generator nationaler Identität
Allerdings hat auch der 5. Mai bislang kaum in Konturen gewonnen. Die "Gedenkjahre" 2005 und 2008 sind insofern auch ein Indikator, welche zentralen historischen Ankerpunkte der nationalen Geschichtserzählung zugrunde liegen - die Antwort ist eindeutig: 1918, 1938, 1945, 1955.

Aber mehr noch als die Frage nach den Bezugspunkte des nationalen Gedächtnisses sollte die Konjunktur von Gedächtnis selbst erstaunen: War 1988 der Terminus Gedenkjahr noch umstritten, forderten namhafte Pressestimmen, Österreich solle sich nicht mit dem "Anschluss" 1938, sondern mit seinem "Anschluss an Europas Zukunft" beschäftigen, so ist das Format des Gedenkjahres mittlerweile selbstverständlich geworden.

Insofern ist 2008 vor allem auch ein Verweis darauf, dass Gedächtnis auch am Beginn des 21. Jahrhunderts ein zentraler Generator nationaler Identität ist - naturgemäß neben anderen wie etwa Sport und Popularkultur.
Erinnerung schafft "Wir" und die "Anderen"
Dieser Befund trifft nicht nur auf Österreich zu: Ungeachtet der Rede vom Verschwinden des Nationalen im globalen Zeitalter erweist das Gedächtnisfieber, in das die Gesellschaften der Spätmoderne anlässlich historischer Jahrestage regelmäßig verfallen, dass Nationen nicht nur funktionale Solidargemeinschaften sind, durch die sich Gesellschaften organisieren, sondern dass es dem Konzept des Nationalen nach wie gelingt, das politisch Imaginäre zu aktivieren.

Die Arbeit am Gedächtnis, das Aufrufen "unserer" Geschichte bestärkt die Vorstellung einer nationalen Wir-Gemeinschaft, vielmehr: lässt sie erst zur Realität werden. Die Imagination eines kollektiven Wir, das eine gemeinsame Geschichte teilt, zieht zugleich eine imaginäre Grenzlinie zu den "Anderen": Es sind die Fieberkurven ihrer Erinnerungskultur, durch die sich Nationen unterscheiden.

Die Mythen der jeweiligen nationalen Geschichtserzählungen sind jenseits der Staatsgrenzen allerdings zumeist weder bekannt noch von Interesse.
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Veranstaltungshinweis
Heidemarie Uhl hält am 29. Jänner 2008 um 18 Uhr am Institut für die Wissenschaften vom Menschen einen Vortrag mit dem Titel "Post-Memoire. Wozu Gesellschaften erinnern".
Ort: IWM, Spittelauer Lände 3, 1090 Wien
->   Mehr über den Vortrag (IWM)
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Aber auch neue transnationale Erinnerungskulturen
Nichts Neues im Feld des Gedächtnisses also? Ist die gegenwärtige Obsession für Gedächtnis eine postmoderne Maskierung jenes symbolischen Bauens am Mythos der Nation, das seit dem 19. Jahrhundert das politisch Imaginäre moderner Gesellschaften prägt?

Der Blick auf gegenwärtigen Tendenzen der Gedächtniskultur kann auch zu einem anderen Ergebnis führen: In den letzten beiden Jahrzehnten haben sich - ungeachtet der unterschiedlichen Ereignisse, an denen Nationen jeweils ihre Geschichtserzählung verankern - Signaturen eines transnationalen Interesses an Gedächtnis herauskristallisiert.

Dieses neue Bedürfnis nach Erinnerung bricht mit dem Pathos nationaler Erinnerungskulturen, die seit dem 19. Jahrhundert den öffentlichen Raum - Denkmäler! - und die Formen des kulturellen Gedächtnisses prägen.
"Negatives Gedächtnis"
Volkhard Knigge, Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, schlägt für diese neue Form kollektiven Erinnerns den Begriff des "negativen Gedächtnisses" vor. Dieses negative Gedächtnis bezieht sich nicht mehr auf den Stolz auf die eigene Geschichte oder auf den Status als Opfer fremder Mächte.

Die eigene Gesellschaft als Opfer zu sehen war jenes Argument, auf dem die nationalen Geschichtserzählungen nach 1945 basierten, die österreichische Opferthese ist nur eine Variante dieses gesamteuropäischen Nachkriegsmythos.

Am Ende des 20. Jahrhunderts beginnt sich das Interesse darauf zu richten, was "wir" den anderen angetan haben, nicht mehr, was "andere" uns angetan haben.
Statt Nationen werden Individuen ...
Diese neue Funktion von Gedächtnis als moralisch-ethische Selbstvergewisserung ist verschränkt mit der Bedeutung, die der Zivilisationsbruch Auschwitz in der globalen Erinnerungskultur gewonnen hat: Als Symbol für das radikalst Andere der Normen und Werte unserer Gesellschaft, einer humanen Ordnung schlechthin.

Die internationale Relevanz des 27. Jänner ist insofern Ausdruck dieses neuen Bedürfnisses nach einer Erinnerung, die nicht mehr die Nation als primären Adressaten hat, sondern Raum eröffnet für Gefühle, Imaginationen, die historische Einbildungskraft des Subjekts.
... zu primären Adressaten der Erinnerung
Darauf verweisen auch neue, individuellen Formen der Erinnerung - auf der Website des United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) kann etwa eine virtuelle Kerze entzündet werden.

Die Gedächtnistheorie hat uns gelehrt, dass es weniger die Ereignisse selbst sind, die ihr Weiterleben im kollektiven Gedächtnis begründen, sondern die Interessen, Sehnsüchte und Bedürfnisse der jeweiligen Gegenwart.

Es ist insofern auch ein neues Bedürfnis, das das gegenwärtige Gedenken an die Opfer des Holocaust bestimmt: eine Ethik der Erinnerung, die sich an jeden einzelnen und jede einzelne richtet und an der jede/r teilhaben kann.

[25.1.08]
->   Virtuelle Kerzen am USHMM
->   Holocaust-Erinnerungstag der UNO
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