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Heidemarie Uhl
Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften
 
ORF ON Science :  Heidemarie Uhl :  Gesellschaft 
 
Neuer EU-Gedenktag: Verfälschung der Geschichte?  
  Die Europäische Union hat einen neuen Gedenktag. Im April hat das EU-Parlament dem Antrag konservativer Abgeordneter zugestimmt, den 23. August - der Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes von 1939 - zum Tag des Gedenkens an die Opfer von Nationalsozialismus und Kommunismus zu erklären. Diese Gleichsetzung der beiden Regime verfälsche die europäische Geschichte in inakzeptabler Weise, kritisiert Yehuda Bauer, einer der international bekanntesten Historiker der Judenvernichtung.  
Antithese zum Holocaust-Gedenktag
Es ist erstaunlich, dass dieser EU-Parlamentsbeschluss so gut wie keine Resonanz in der medialen Öffentlichkeit gefunden hat, denn er hätte das Potenzial, einen gesamteuropäischen Streit um die Erinnerung auszulösen. Der neue Gedenktag ist kein Gedenktag wie viele andere auch, er steht in Antithese zu jenem Tag, der 2002 als europäischer Gedenktag an die traumatische Geschichte des 20. Jahrhunderts beschlossen worden war: dem Gedenktag für die Opfer des Holocaust.

Die Einrichtung des 27. Januar als "Tag zum Gedenken an den Holocaust und zur Verhütung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit" führte auf europäischer Ebene fort, was in den Mitgliedsländern der EU bereits vielfach erfolgt war: eine neue Erinnerungskultur für die bislang kaum gewürdigten Opfer der rassistischen NS-Verfolgungs- und Vernichtungspolitik.
Europäische Nachkriegsmythen
Wenn Tony Judt, Historiker an der New York University, postuliert, dass das heutige Europa "aus den Krematorien von Auschwitz" errichtet sei, dann ist dies das Ergebnis der Transformationen des europäischen Gedächtnisses im Hinblick auf die traumatische Geschichte des 20. Jahrhunderts.

In den Jahrzehnten nach 1945 hatten die politischen Nachkriegsmythen den Umgang mit der NS-Vergangenheit bestimmt. Ungeachtet der unterschiedlichen Formen der Involvierung in den NS-Herrschaftsbereich wurde nach 1945 in den Ländern Europas das "eigene Volk" zum unschuldigen Opfer grausamer Unterdrückung durch einen feindlichen Aggressor erklärt, die Kollaboration mit dem Besatzungsregime ausgeblendet und alle Schuld an den NS-Verbrechen auf Deutschland projiziert.
Präzedenzloses Menschheitsverbrechen
Nicht nur die Konstruktion, auch das Zerbrechen dieser Nachkriegsmythen ist ein europäisches Phänomen. In den 80er Jahren stellte eine von der Erfahrung des Nationalsozialismus nicht mehr direkt geprägte Generation neue Fragen nach der Involvierung der eigenen Gesellschaft in die Verbrechen des NS-Regimes, nach 1989 sollte dies auch in den Ländern des ehemaligen kommunistischen Herrschaftsbereichs erfolgen.

Das Ergebnis der Konflikte um die Erinnerung im ausgehenden 20, Jahrhundert ist die Anerkennung des Holocaust als präzedenzloses Menschheitsverbrechen. Der "Zivilisationsbruch Auschwitz" (Dan Diner) hat die Grundlagen der westlichen Zivilisation erschüttert, sein Potenzial an Herausforderung und Irritation für die Gegenwartsgesellschaft ist nach wie vor ungebrochen.

Die Vernichtung der europäischen Juden war ja keine "'asiatische' Tat"- eine Behauptung, mit der Ernst Nolte 1986 den deutschen Historikerstreit ausgelöst hatte. Der Holocaust kann nicht aus der europäischen Geschichte "externalisiert" werden, denn die Planung und Durchführung ging von einem Land aus, das sich im Mainstream des europäischen Modernisierungsprozesses entwickelt hatte.
Negierendes Geschichtsbild
In welchem Verhältnis steht nun der 23. August zum 27. Januar? Keineswegs ist er eine Ergänzung, sondern vielmehr eine Antithese. Mit dem 23. August verbindet sich ein Geschichtsbild, das die Anerkennung des Holocaust als zentralem Bezugspunkt eines europäischen Geschichtsbewusstseins negiert, und zwar durch die Gleichsetzung der Opfer von Nationalsozialismus und Kommunismus und damit die Gleichstellung der beiden Systeme.
"Nicht vergleichbar"
Dies widerspricht den historischen Ereigniszusammenhängen, wie Yehuda Bauer, Mit-Initiator der 1998 gegründeten ITF Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance, and Research und deren langjähriger wissenschaftlicher Berater in einem Grundsatzartikel zum 23. August ausführt. Der Genozid an den Juden sei mit den Verbrechen des Kommunismus nicht vergleichbar, der brutale und mörderische Terror in kommunistischen Diktaturen habe sich nicht auf die Vernichtung einer gesamten Bevölkerungsgruppe gerichtet.
"Inakzeptable Gleichstellung"
Angesichts der Geschichtsklitterung durch die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kommunismus erscheint es offenkundig notwendig, einige Tatsachen in Erinnerung zu rufen. Bauer weist etwa darauf hin, dass der Zweite Weltkrieg von Nazi Deutschland begonnen wurde, nicht von der Sowjetunion; dass die Verantwortung für die 35 Millionen Toten in Europa, 29 davon nichtjüdisch, bei Nazideutschland liege, nicht bei Stalin.

Und es sei die sowjetische Armee gewesen, die Osteuropa befreit habe; sie sei die wichtigste Kraft für den Sieg über Nazi-Deutschland gewesen und habe Europa und die Welt vor dem Nationalsozialismus gerettet.

Mit der These von der Kontinuität totalitäre Regime in Europa werde die weltgeschichtliche Zäsur des Jahres 1945 verwischt. Es bestehe kein Zweifel daran, dass die Opfer des Kommunismus geehrt und Verbrechen verurteilt werden sollen. Aber die beiden Regime auf eine gleiche Ebene zu stellen und die unterschiedlichen Verbrechen gemeinsam zu erinnern, sei, so Bauer, völlig unakzeptabel.
Ein rekonstruierter Mythos
Bauers Statement wäre noch durch einen weiteren Aspekt zu ergänzen: In der europäischen Holocaust-Erinnerung ist das Gedenken an die Opfer mit der Frage nach der Involvierung der eigenen Gesellschaft in die NS-Verbrechen verbunden, Erinnern versteht sich als Auftrag, Rassismus, Antisemitismus, die Diskriminierung von Minderheiten aufgrund ethnischer, religiöser, sexueller Kategorien zu bekämpfen.

In der Erinnerungskultur der Post-1989-Gesellschaften ist das "eigene Volk" ein unschuldiges Opfer grausamer Unterdrückung von außen, die Involvierung der eigenen Gesellschaft in das kommunistische Herrschaftssystem kann so externalisiert werden.

Was man in den postkommunistischen Ländern beobachten kann, ist gewissermaßen ein Déjà-vu der Opfererzählungen, wie wir sie aus den europäischen Nachkriegsmythen kennen und deren Überwindung ja die Voraussetzung für die neue europäische Erinnerungskultur ist.

Das Modell der Nachkriegsmythen zur Grundlage eines gesamteuropäischen Gedenktages zu machen, erreicht eher das Gegenteil: die Gräben zwischen einer westeuropäischen und der postkommunistischen Erinnerungskultur werden nun wohl noch tiefer werden.

[21.8.09]
->   Holocaust Task Force
->   EU-Pressemitteilung zum 23. August
->   Yehuda Bauer - Wikipedia
 
 
 
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