Host-Info
Otto H. Urban
Institut für Ur- und Frühgeschichte,
Universität Wien
 
ORF ON Science :  Otto Urban :  Wissen und Bildung .  Gesellschaft 
 
Egon Friedell und die Urgeschichte, I. Teil  
  Egon Friedell, der am 16. März 1938 - also vor 66 Jahren - Selbstmord beging, als die SA ihn verhaften wollte, beschäftigte sich auch mit Fragen der Urgeschichte und stand in deutlichem Gegensatz zu Oswald Spengler.  
Bild: © Christian Brandstätter Verlag, Wien
Als ich vor einigen Wochen anläßlich der 70. Wiederkehr des Bürgerkrieges Tageszeitungen aus dem Jahre 1934 las - die Presse berichtete damals täglich über den Generalstreik in Frankreich und die dadurch bestehende Gefahr für die Regierung in Paris und in Österreich über die immer stärker werdenden Forderungen der faschistischen Heimwehren in den Ländern, die letztendlich zum scharfen Vorgehen der Regierung Dollfuß gegenüber dem republikanischen Schutzbund und zum Bürgerkrieg führten - stieß ich zufällig auf ein Feuilleton von Egon Friedell über die "Vorgeschichte der Menschheit", welches am 4. und 10. Februar 1934 in der "Neuen Freien Presse" gedruckt worden ist.

Dieses Essay bildete 1936 mehrere Absätze im einleitenden Kapitel (Die Mär der Weltgeschichte) der von Friedell in Zürich herausgegebenen Kulturgeschichte des Altertums: Ägypten und Vorderasien.
Prägte das Kulturleben Wiens

Egon Friedell, einer der vielseitigsten Schriftsteller im Wien der ausgehenden Monarchie und ersten Republik, prägte das Kulturleben der Stadt - als Kabarettist in der Fledermaus wie als Schauspieler am Theater in der Josephstadt unter Max Reinhardt sowie als Feuilletonist, Theaterkritiker, Übersetzer und Kulturhistoriker. Seine dreibändige "Kulturgeschichte der Neuzeit" setzte neue Maßstäbe. Die zweibändige Kulturgeschichte Ägyptens und des alten Orients musste in Zürich erscheinen, denn in Deutschland waren seine Bücher bereits verboten.

Egon Friedell wurde am 21. Jänner 1878 in Wien als Egon Friedmann geboren und trat als Neunzehnjähriger vom jüdischen zum evangelischen (A.B.) Glauben über. Er studierte Germanistik und Philosophie in Heidelberg und promovierte 1904 mit einer Dissertation über Novalis als Philosoph bei Friedrich Jodl in Wien; eines der bekanntesten Fotos von Friedell (oben) zeigt ihn mit seiner aus Heidelberg stammenden Studentenpfeife.
->   Kurzbiographie (www.transfer.at)
Selbstmord vor Verhaftung durch SA

Nur zwei Tage nach dem Einmarsch der Deutschen Truppen in Österreich stürzte sich Friedell vom Balkon seines Arbeitszimmers in Wien 18., Gentzgasse 7, in die Tiefe, als zwei SA-Leute ihn verhaften wollten. Der damals Sechzigjährige wollte nicht ins Ausland fliehen, obwohl ihn viele seiner engsten Freunde dazu rieten und drängten: Er lehnte unter Hinweis auf seine Bibliothek ab.

"Er besaß über dreitausend Bände, fein säuberlich geordnet und jeder einzelne ist von ihm mit unzähligen Bemerkungen an den Seitenrändern vollgeschrieben," schreibt Gernot Friedel in einer lesenswerten Romanbiographie über die letzten Tage Egon Friedells, die auch die letzten Tage der Ersten Republik waren, erschienen 2003 im Molden Verlag.
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Egon Friedell: Schriftsteller-Schriftspieler
"Es gab eine Zeit, in der jeder Mensch dichtete: das war die Urzeit des Menschengeschlechts."

Friedell mit eigenen Texten - bekannten und unbekannten; ergänzt durch eine Dokumentation und Berichte zu seinem "Frei"-Tod am 16. März 1938, der natürlich nicht - wie oftmals geschrieben steht - "freiwillig", sondern unter dem Druck der NS-Diktatur erfolgte.

Egon Friedell, Der Schriftspieler, Löcker Verlag, Wien 2003.
->   Kurzbiographie (wikipedia.org)
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Die Vorgeschichte der Menschheit, von Egon Friedell.
Auszug aus der Neuen Freien Presse.
Der folgende Beitrag ist einem bisher noch nicht veröffentlichten Werk des Autors entnommen. Wir freuen uns, den Lesern die Auseinandersetzung des geistvollen Historikers und Philosophen mitteilen zu können.

Mommsen hat einmal rundheraus erklärt, die Vorgeschichte handle von jenem Teil der Geschichte, der weder messbar noch wissenswert sei. Vom Standpunkt der strengen Historie hat er zweifellos recht. Denn im reinen und eigentlichen Sinne erzeugt die Vorgeschichte weder historisches Wissen noch historisches Interesse. Sie vermag die Perioden, mit denen sie zu tun hat, immer nur im Querschnitt zu zeigen, niemals im Längsschnitt [...].

Obgleich sie in den letzten fünfzig Jahren an Umfang und Tiefe außerordentlich gewonnen hat, so bleibt doch bis zu einem gewissen Grade noch immer zu Recht bestehen, was Ranke in der Einleitung zu seiner Weltgeschichte über sie sagte: "Man muss diese Probleme der Naturwissenschaft und zugleich der religiösen Auffassung anheimgeben."
Die Höhlenkultur
Das Eigentümliche der Vorgeschichte besteht vor allem darin, dass sie über die wichtigsten Fragen, wie Religion, soziale Struktur, Siedlungsgebiet, Erotik, nur sehr unsicher, hingegen über gewusste Details des Alltagslebens ziemlich genau unterrichtet ist. Wir wissen, wie der prähistorische Mensch seine Schuhe schnürte und was er frühstückte, aber wir wissen nicht, welches Weltgefühl ihn erfüllte und welches Antlitz er trug: Und so lange wir das nicht wissen, redet er nicht zu uns.

Ganz allgemein ist das Diluvium, das ebenso gut eine Million wie eine Viertelmillion Jahre gedauert haben kann, als eine Zeit der Höhlenkultur zu bezeichnen. Auch in der Tierwelt dominierten entsprechende Formen: Hohlenlöwe, Höhlenbär, Höhlenhyäne. Das Renntier war wahrscheinlich schon Haustier. Der Mensch der Altsteinzeit war Jäger. Er machte Messer und Lanzenspitzen, Hammer und Sägen aus Feuerstein, Pfeilspitzen ...


Friedell berücksichtigt noch nicht die Möglichkeiten der Erhaltung und Auffindung paläolithischer Funde und stellt daher, wie bereits A. Th. Sonnleitner in "Die Höhlenkinder im Heimlichen Grund" eine Höhlenkultur an den Anfang der Menschheit. Oswald Menghin dagegen erörtert 1931 in seiner "Weltgeschichte der Steinzeit" die Möglichkeit einer alithischen Holzkultur, einer steingerätefreien Holzkultur, die am Anfang der Entwicklung stand; dies erscheint durchaus wahrscheinlich, ist aber bis heute nicht nachgewiesen.
Der Neandertaler als Homo primigenius
In der letzten Zwischeneiszeit, vor zwanzigtausend bis zweihunderttausend Jahren, taucht der berühmte Neandertaler auf, so genannt, weil seine fossilen Reste zuerst im Neandertal bei Düsseldorf gefunden wurden. Er gilt als der Homo primigenius, der Urmensch. Er war über ganz Afrika, Asien und Europa verbreitet (dies stimmt nicht, der Homo neanderthalensis ist lediglich in Europa, Nordafrika und nach Asien bis in den Iran hinein verbreitet), und verschwand während der letzten Eiszeit.

Er hatte einen massigen Kiefer, kein richtiges Kinn und starke Knochenwülste über den Augenhöhlen. Die Stirn war fliehend, das Schädeldach flach. Er besaß also verhältnismäßig wenig Gehirnmasse, und das Vorderhirn, wo sich das Sprachzentrum befindet, war besonders klein. Indes gestattet dies noch keine zwingenden Schlusse auf seine Geistesart: "Wer wollte", hat schon vor mehr als sechzig Jahren der berühmte Geograph Oskar Peschel gegen diese materialistische Argumentationsweise bemerkt, "nach dem Gewichte entscheiden, ob eine Turmuhr oder ein Taschenchronometer schärfere Zeiteinteilungen gewähren?" Man denke an das Hirn der Biene und Ameise, dass es bei Gauß und Helmholtz nur wenig über den Durchschnitt lag, bei Ignaz v. Dollinger sogar weniger.

MacGregor hat versucht, das Antlitz des Neandertalers in einer Büste zu rekonstruieren; auf dieser hat er einen Sokrateskopf. Er war mit der Verwendung des Feuers vertraut, machte allerlei Werkzeuge, übte die Sitte der Totenbeigaben und besaß als Voraussetzung alles dessen sicher schon eine Art Lautsprache. Im übrigen lebte er gleich einem Raubtier von anderen Tieren; aber das tun wir ja auch. Es liegt also kein Grund vor, sich über den Urmensch aufzuregen.
Der Rhodesiamensch
Der Rhodesiamensch, der erst vor Kurzem auf dem Gute Broken Hill in Südafrika entdeckt wurde, wird vielfach als die Übergangsstufe vom Neandertaler zum Homo sapiens angesehen; nur die Stirnbogen sind noch affenartig und der Unterkiefer auffallend massiv. Man schätzt sein Alter auf wenige Jahrtausende.

Hier stoßen wir auf einen Fixierpunkt der prähistorischen Wissenschaft. Es haben sicher zu fast allen Zeiten höhere und niedere Rassen gleichzeitig auf Erden gelebt, und da wir bei keinem der Funde wissen, ob er die älteste oder die jüngste Form seines Zeitalters darstellt, so sagt er uns entwicklungsgeschichtlich gar nichts.

Welche Ansicht die Prähistoriker in hunderttausend Jahren von der heutigen Spezies haben werden, wird lediglich davon abhängen, ob ihre Schaufeln auf den Angehörigen einer hochgezüchteten Rasse oder auf einen Australier stoßen werden, dem der Rhodesiamensch nicht gar so unähnlich gewesen sein dürfte.


Wie so oft - auch heute noch - erhoffte man sich von einem Neufund das "missing link". Der Absatz zeigt außerdem, dass Friedell ebenso ein "Kind seiner Zeit" war und verschieden hoch entwickelte bzw. gezüchtete Menschenrassen annahm.
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Alle Menschen gehören einer Spezies an
Nach den modernen DNA-Analysen sind keine Unterarten (Subspezies) und auch keine biologisch definierbare Rassen des Homo sapiens belegt, dass heißt alle heute lebenden Menschen gehören ein und der selben Art (Spezies) an. Homo neanderthalensis, Homo erectus und Homo sapiens sind dagegen jeweils eigene Arten (Spezies) der Gattung Mensch (Homo). (Links im Bild: Rhodesia man)
->   Kurzer Überblick über die verschiedenen Menschenarten
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Die Cro Magnards
Am Beginn der letzten Eiszeit erscheint die Cro Magnon-Rasse [...] mit den altamerikanischen Sprachen. Nach unserer (natürlich völlig hypothetischen) Ansicht, waren die Cro Magnards der Seitenstamm einer sehr edeln Rasse, die über Amerika, Atlantis und große Teile der Alten Welt verbreitet war und deren letzte Zweige im Westen die Inkas, im Osten jene geheimnisvollen Völker gewesen sind, die man bisher in Ermangelung einer anderen Charakteristik als "nichtindogermanisch" registriert hat, die aber vielleicht besser als vorindogermanisch zu bezeichnen wären.

Es ist sehr bedauerlich, dass nach Friedells Tod die umfangreiche Bibliothek mit seinen handschriftlichen Annotationen nicht erhalten blieb; sie wurde nur summarisch geschätzt. Meines Wissens sind bisher im Antiquariatshandel keine sicher der Bibliothek Friedells zuzuschreibenden Bücher aufgetaucht. Die Marginalien wären auf Grund der markanten Handschrift sicher bereits von den erfahrenen Antiquaren entdeckt worden. Der schriftstellerische Nachlass wurde im Übrigen von Franz Deuticke als Sachverständiger bewertet - auf sein Honorar dafür verzichtete er zu Gunsten des Winterhilfswerks.
Der Bildzauber
Die Kunst dieser Menschen hat eine Höhe erreicht, die für uns geradezu unfassbar ist. In ihnen daraufhin immer noch "begabte Wilde" zu erblicken, wie das Wells tut, ist die Verstocktheit eines liberalen Fortschrittsdogmatikers. Wer weiß überhaupt, welche Finessen sie auch sonst in ihren Lebensformen beobachteten? Von der Kultur des alten Peru ist dergleichen bekannt; ein Abglanz atlantischer Noblesse leuchtet noch aus Coopers "Lederstrumpf". Und das Baskische hat für die zweite Person des Singulars verschiedene Formen, je nachdem ein Mann oder eine Frau angeredet wird, was doch wohl der Gipfelpunkt der Galanterie ist. Übrigens haben auch die Polynesier, wie Luschan berichtet, vier oder fünf Ausdrücke für "Dame" und keinen einzigen für "Frauenzimmer".

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Friedell, als erfahrener Kunstkenner und Kulturhistoriker, große Schwierigkeiten hat, die Höhlenmalereien in sein - im Großen und Ganzen evolutionistisch und von Hochkulturen geprägtes - Geschichtsbild einzugliedern.
Malereinen und Plastiken
Wir besitzen aus dem Spätpaläolithikum unter anderem reliefierte, gravierte und schattierte Schwarz-Rot-Malereien, sehr ähnlich den höchst gelungenen Felsbildern der Buschmänner Südafrikas; Mammut, Wolf, Hirsch, Höhlenlöwe in virtuosen Umzeichnungen [...]. Auch Plastiken von Menschen und Tieren sind zutage gefördert worden, unter anderm die berühmte "Venus von Willendorf", eine Statuette aus Kalkstein, mit Rötel überzogen, völlig nackt, in einer Art Gebetstellung, wie sie noch heute bei den Orientalen gebräuchlich ist. Sie entspricht mit ihrem unförmig dicken Körper, ihren mächtigen Hängebrüsten und Mastschenkeln nicht ganz unserem Schönheitsideal; aber es ist bekannt, dass bei vielen Völkern Fettleibigkeit als besonderer weiblicher Reiz gilt. [...]

Diese Kunst ist magischer als die griechische, elementarer als die Rembrandtsche, gekonnter als die expressionistische. Nur Ägypten, Kreta und die Gotik können hier genannt werden. [...] Menschen, die es zu solchen Materialisationen des Kunstwillens brachten, müssen eine sehr hohe Kultur besessen haben. Man hat von der Höhe positivistischen Aufklärungsdünkels, für den Kultur erst mit der Druckerpresse und der Eilpost anhebt, in allen diesen Höhlenwundern Veranstaltungen eines religiösen Bildzaubers erblicken wollen. Fasst man diese Deutung nicht rationalistisch und materialistisch, wie sie gemeint ist, so ist sie völlig zutreffend, denn alle wahre Kunst ist Kult, Gottesdienst; und zugleich eine Beschwörung. Es muss in der Tat ein überirdischer Bilderzauber gewesen sein, dem zwanzigtausend oder gar hunderttausend Jahre nichts von seiner Bannkraft zu rauben vermochten.


Neue Freie Presse, Morgenblatt, Wien, Sonntag, den 4. Februar 1934, Feuilleton, S. 1 ff.
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Die Fortsetzung zu diesem Beitrag erscheint in den kommenden Tagen in science.ORF.at: Egon Friedell und die Urgeschichte, II. Teil
->   Sämtliche Beiträge von Otto Urban in science.ORF.at
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Friedell-Gedenktafel
 


Gedenktafel am Haus Gentzgasse 7, nur wenige Gehminuten vom Archäologie-Zentrum im Währinger Park entfernt.
Friedell und Goethe

"Goethe im Examen" von Egon Friedell und Alfred Polgar wurde am 1. Jänner 1908 im Kabarett "Fledermaus" uraufgeführt.

Friedell spielte stets in dem Sketch die Titelfigur, dreißig Jahre lang, zum letzten Mal am 7. Februar 1938 im Theater an der Wien, wenige Wochen vor seinen Tod. Das Stück war in Wien ein Dauererfolg, ein kabarettistisches Glanzstück, das die professorale Stoffhuberei und das Bildungsbürgertum geistreich aufs Korn nahm.
->   Friedell als Kabarettist (www.kabarettarchiv.at)
Friedell und die Zukunft
In seiner postum (1946) erschienenen Novelle "Die Reise mit der Zeitmaschine" (The Return of the Time Machine, 1972 bzw. Die Rückkehr der Zeitmaschine, Diogenes 1981) schildert Friedell auf seiner ersten Station London im Jahre 1995.
->   Friedell als Autor utopischer Werke (www.stadtbibliothek.wien.at)
Bibliographie

Roland Innerhofer: Egon Friedell. Kulturgeschichte zwischen den beiden Weltkriegen. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1990 (= Literatur in der Geschichte, Geschichte in der Literatur 20).
 
 
 
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