Host-Info
Otto H. Urban
Institut für Ur- und Frühgeschichte,
Universität Wien
 
ORF ON Science :  Otto Urban :  Wissen und Bildung .  Gesellschaft 
 
Egon Friedell und die Urgeschichte, II. Teil  
  Egon Friedell, der am 16. März 1938 Selbstmord beging, als eine SA-Schar ihn verhaften wollte, beschäftigte sich auch mit Fragen der Urgeschichte und Stand in deutlichem Gegensatz zu Oswald Spengler.  

Als ich vor einigen Wochen anläßlich der 60. Wiederkehr des Bürgerkrieges Tageszeitungen aus dem Jahre 1934 lies, stieß ich zufällig auf ein Feuilleton von Egon Friedell über die "Vorgeschichte der Menschheit", welches am 4. und 10. Februar 1934 in der "Neuen Freien Presse" abgedruckt worden war.

Das Essay bildete später mehrere Seiten im einleitenden Kapitel (Die Mär der Weltgeschichte) der 1936 von Egon Friedell herausgegebenen Kulturgeschichte des Altertums: Ägypten und Vorderasien.
->   Egon Friedell und die Urgeschichte, I. Teil
II. Die Jungsteinzeit
Das Neolithikum, die Jungsteinzeit, das man auch schlechtweg als Steinzeit im engeren Sinne bezeichnen kann, entspricht, grob gerechnet, dem Alluvium bis zum Beginn der Bronzezeit: Sein Anfang fällt also in das Abklingen der letzten Eiszeit. Weniger eindeutig lässt sich sein Ende bestimmen. In Ägypten und Mesopotamien fand es bereits um 4000 vor Christus seinen Abschluss, in Mittel- und Nordeuropa um 2000, in Ozeanien besteht es noch heute. Doch sind gerade die Ozeanier ein Beweis dafür, dass Metall und Kultur durchaus nicht Begriffe sind, die sich gegenseitig bedingen: Ihre Technik des Mattenflechtens zum Beispiel und ihre Kunst, aus Baumbast zartesten "Batist" und gediegenstes "Leder" zu erzeugen, hat auf der ganzen Erde kein zweites Beispiel.

Die Endgrenze der Steinzeit deckt sich nicht überall mit der der Vorgeschichte, so dass es prinzipiell erlaubt wäre, zu sagen: Mit dem Metall beginnt die eigentliche Geschichte. In Mittel- und Nordeuropa zum Beispiel, wo die Bronzezeit um 2000 einsetzt, reicht die Vorgeschichte bis zum Anfang unserer Zeitrechnung. Ebensowenig aber kann man sagen: erst mit dem Verlassen der Vorgeschichte hebt wahres Wissen an. Auch die Prähistorie ist eine Wissenschaft, sie ist nur keine historische Wissenschaft.

Denn die Geschichte hat es immer mit der Individualität, mit der Einmaligkeit zu tun: auch wenn sie Kollektiverscheinungen, Massenereignisse betrachtet, sind es doch stets solche, die mit diesem Gesicht und Gang so nie vorher da waren und so nie wiederkehren werden. Die Menschen der Urzeit aber sind für uns eine körperlose Geisterschar: stumm, ohne Antlitz, ein Nebelschwaden. Nur durch Winke und Zeichen, die meist rätselhaft sind, kündigen sie uns ihr Dasein an.
Schriftlose Kulturen
Trotzdem ginge man viel zu weit, wenn man die Vorgeschichte als Objekt der Forschung überhaupt nicht anerkennen wollte. Das war das Vorurteil eines druckenden und nichts als druckendes Zeitalters, dessen Wortidolatrie nur an Geschehnisse glaubte, die aufnotiert waren, und daher die Geschichte dort aufhören ließ, wo die Philologie nichts mehr zu beißen hat. Den Gedanken, dass es auch schriftlose Kulturen gegeben haben könne, die den toten Buchstaben nicht brauchen, weil sie ihn durch das lebendige Gedächtnis ersetzten, hätte ein exzerpierendes, kollationierendes, rubrizierendes, Kommentare kommentierendes Jahrhundert mit überlegenem Lächeln zurückgewiesen.

Erst die jüngste Zeit hat sich zu der Erkenntnis durchgerungen, dass der Grundriss eines Hauses, die Verzierung eines Gefäßes, die Anlage eines Grabes oder Altars ebenfalls ein historischer Bericht ist, der an Gewicht einer Inschrift oder Chronik durchaus gleichkommt. Aber nur an Gewicht, nicht an Gehalt: Denn die primitivste oder dunkelste Rede des Menschen sagt uns mehr von seiner Seele als alle seine Schalen, Trachten, Schwerter und Idole. Wie er seine Tracht trug, welche Idee im Idol lag: das wünschen wir zu erfahren. Es wird also doch in einem gewissen Sinne bei den Worten des weisen Ranke bleiben: Vorgeschichte ist Naturwissenschaft oder Religion; wir haben nur die beiden Möglichkeiten, uns in ihren schönen Formenschatz liebevoll beschreibend zu versenken oder vor ihren geheimnisvollen Botschaften ehrfurchtsvoll zu verstummen.


Es folgen noch Ausführungen zu den Pfahlbauten und Megalithdenkmälern - im Großen und Ganzen beschränkt sich Friedell inhaltlich weitgehend auf das Schulwissen. Interessant allerdings seine kritische Einschätzung der Urgeschichte als Geschichts- bzw. Geisteswissenschaft - ein Problem, dem sich auch heute nur selten die prähistorischen Archäologen stellen.
->   Urgeschichte im Schulunterricht (Otto Urban)
Die Metallzeit
Hier befinden wir uns bereits im Übergang zur Metallzeit. Das erste Metall, das bearbeitet wurde, war das Kupfer: Es ist aber bekanntlich sehr weich und vermag gediegen bearbeiteten Stein nicht völlig aus dem Felde zu schlagen. Man spricht daher von der "Steinkupferzeit". Die Erfindung der Bronze geschah wahrscheinlich um 2500 vor Christus. Sie bestand einfach darin, dass man dem Kupfer Zinn beimischte; der Zusatz war anfangs gering und stieg allmählich bis zu zehn Prozent, welches Verhältnis sich als das vorteilhafteste erwies und die Regel blieb. Die neue Legierung war nicht nur härter, sondern auch schmelzbarer.

Die klassische Ära der Bronzekultur ist das zweite Jahrtausend. Sie ist, sehr allgemein gesprochen, das Zeitalter der erwachenden Schifffahrt, der "heliolithischen Kultur", die im Kultus der Sonnenscheibe wurzelt, und der Gräber in Bergkammern. Wiederum finden sich Similiwaren: gebuckelte, mit Goldglimmer überzogene Tongefäße, die täuschend Bronze nachahmen, ein Zeichen für die Weltherrschaft dieses Metalls, die von Mexiko und Peru bis Indien und China reichte.
Amerika, Ägyten, Europa
In Amerika dauerte die Bronzezeit bis zu seiner Entdeckung. In Ägypten gab es nach Funden aus prähistorischer Zeit Eisen schon im fünften Jahrtausend; aber bis etwa 1000 vor Christus wurde es dort nur als Zahlungsmittel und kostbarer Schmuckstein verwendet.

Obgleich in Europa die Kultur während der Bronzezeit weit niedriger stand als im Orient, ist dort trotzdem der Übergang zum Eisen nicht später, wahrscheinlich sogar früher, erfolgt. Aber das ganze erste Jahrtausend der mitteleuropäischen Eisenzeit, das letzte vor Christus, ist für uns, wie gesagt, noch Vorgeschichte. In der Eisenzeit befinden wir uns noch heute oder vielmehr: befanden wir uns noch vor kurzem; denn seit zwei oder drei Menschenaltern darf man von einer Stahlzeit sprechen.


Die Einschätzung der Bronzezeit erscheint unter Berücksichtigung des Neufundes der Himmelscheibe von Nebra mit der Darstellung einer Sonnenbarke bemerkenswert; interessant auch die Idee Friedells, die Eisenzeit bis in die industrielle Zeit "weiter leben" zu lassen.
Oswald Spengler

In einer kleinen, aber ungemein gehaltvollen Schrift "Der Mensch und die Technik", die erfüllt ist von einem eigentümlich kalten Glanz, wie ihn alle seine Werke ausstrahlen, hat Oswald Spengler seine Vision vom Entwicklungsgang der Menschheit aufgezeichnet. Für ihn ist der Mensch ein Raubtier: "Nur der feierliche Ernst idealistischer Philosophen und anderer Theologen besaß nicht den Mut zu dem, was man im stillen recht gut wusste".

Und zwar ist der Mensch der Typus des erfinderischen Raubtieres. Wodurch ist er dazu geworden? "Die Antwort lautet: durch die Entstehung der Hand ... Sie muss plötzlich entstanden sein, jäh wie ein Blitz, ein Erdbeben, wie alles Entscheidende im Weltgeschehen, epochemachend im höchsten Sinne." Mit der Hand zugleich war die Waffe und das Werkzeug gegeben, als ihre notwendige Ergänzung.

Eine zweite derartige "Mutation" ereignete sich durch die Entstehung der Sprache, deren Gebrauch identisch war mit Unternehmung, Berechnung, Organisation: Sie fällt nach Spenglers Ansicht in das fünfte vorchristliche Jahrtausend. Heute stehen wir auf dem Gipfel, dort, wo der fünfte Akt beginnt. "Die letzten Entscheidungen fallen. Die Tragödie schließt."
Katastrophenphilosophie
Diese Katastrophenphilosophie ist zweifellos eine tiefere Konzeption als der bürgerliche Evolutionismus; und auch eine heroischere. Aber der eisige Pessimismus Spenglers denkt nur in Katastrophen, und noch dazu in sinnlosen: "An und für sich ist es belanglos, welches Schicksal dieser kleine Planet hat, der irgendwo im unendlichen Raume für kurze Zeit seine Bahnen zieht ... Die Geschichte des Menschen auf diesem Planeten ist kurz, ein jäher Aufstieg und Fall von wenigen Jahrtausenden, etwas ganz Belangloses im Schicksal der Erde."

Das ist naturalistischer Atheismus, obschon höchsten Ranges; bei aller Genialität eine mephistophelische Ansicht. Spengler ist, obgleich er ihn bekämpft, immer noch von Darwin fasziniert. Aber alles Geschaffene ist Leben, alles Lebendige ist Geist: Leben und Geist haben eine Geschichte, aber keinen Anfang; und jede Ruine ist ein Blütenboden. Vor Gott sind alle Planeten gleich groß, alle Lebensläufe gleich ewig, und vor seinem Thron gibt es nur gefallene Seelen, nicht emporgestiegene Raubtiere. Wahrscheinlich ist nicht einmal das Raubtier ein Raubtier. Nur in Augenblicken der Vergesslichkeit sozusagen, die freilich nicht selten sind, ist der Mensch eines. Und das Abendland wird untergehen, aber nur soweit es von Spengler ist.


Neue Freie Presse, Morgenblatt, Wien, Samstag, den 10. Februar 1934, Feuilleton, S. 3 f.
->   Oswald Spengler, Kurzbiographie (www.weltchronik.de)
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->   Ungekürztes Feuilleton (Neue Freie Presse) von Egon Friedell
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Friedell versus Spengler

Oswald Spengler
Oswald Spenglers Vorstellungen von der Urgeschichte verläuft in mehreren Schritten: Durch die Entstehung der Hand, als Waffe und Werkzeug, entsteht der Mensch, allerdings als "erfinderisches Raubtier".

Als zweite Stufe entwickelt sich - für Spengler Hand in Hand mit der Jungsteinzeit - die Wortsprache, das "'fließende' Sprechen" und in direkter Folge das "Unternehmen", das gemeinsame Tun. Dieses Unternehmen braucht, nach Spengler - und damit decken sich seine Theorien in weiten Bereichen mit jenen des Nationalsozialismus (obwohl er der NSDAP eher ablehnend gegenüber gestanden sein soll) - "Führer wie Geführte".

Die dritte Stufe, der Ausgang, bildet die Entstehung der "hohen Kulturen", der Stadt, Aufstieg und Ende der Maschinenkultur. In diesen weiteren Ausführungen treten dann immer mehr rassistische Überlegungen zu Tage, auf die Friedell gar nicht mehr näher eingehen möchte; es ist allerdings deutlich erkennbar, warum die Schriften von Oswald Spengler in Hitlers Deutschem Reich neu aufgelegt und verbreitet werden (Spengler stirbt 1936), wogegen jene Friedells verboten wurden.
->   Spengler und der "Untergang des Abendlandes" (www.humboldtgesellschaft.de)
Der Sonnenwagen von Trundholm
 


Mittel- bis spätbronzezeitlicher Sonnenwagen von Trundholm (Dänemark), der etwa in das 14. Jhdt. v. Chr. datiert. Einer der Funde, welche Friedell anregten, von einer "heliolithischen Kultur" zu sprechen.
->   Quelle: Kopenhagen, Staatsmuseum für Kunst
->   Sämtliche Beiträge von Otto Urban in science.ORF.at
 
 
 
ORF ON Science :  Otto Urban :  Wissen und Bildung .  Gesellschaft 
 

 
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